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Bilder bei die Fische!

Sie lebt in Neugraben, hat im letzten Jahr sehr erfolgreich am Harburger Kulturtag teilgenommen und bereitet gerade ihre fünfte große Ausstellung vor: Annette Wiese. Ein Portrait einer Künstlerin, bei der die Namen ihrer Bilder ebenso bemerkenswert sind wie die Werke selbst.

 „Am Ende wird die Kunst uns alle retten.“ Dieser Satz im Programmheft des Harburger Kulturtags zieht sofort meine Aufmerksamkeit auf sich. Es ist der Titel einer Ausstellung der Neugrabener Malerin Annette Wiese, die im November letzten Jahres einen Monat lang in der Harburger Fischhalle zu sehen war. Ich frage mich: Vor wem? Oder vor was? Vor Donald Trump vielleicht? Das bringt mich direkt zur nächsten Frage: Sind wir eigentlich noch zu retten? Diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, während ich an einem eisig kalten aber trockenen Novembermorgen durch den Harburger Binnenhafen zu unserem Gespräch in die Fischhalle fahre.

Zum Nachdenken anregen, das ist genau ihre Absicht. Die Leute sollen sich selbst Gedanken machen, was die Titel ihrer Bilder bedeuten. Stoff dafür gibt es genug: „Herr K. im Zustand einer partiellen Erleuchtung“, „Der Wolf und die sieben Tulplein“, „Stillleben mit Biofrüchten“ oder „Das reparierte Meer“. Ist das jetzt Gesellschaftskritik? Sarkasmus? Eine Parodie auf die Gutmenschen? Oder alles zusammen? Das kann wohl jeder interpretieren, wie er mag. Annette Wiese jedenfalls hält sich mit Deutungsvorschlägen zurück. Über die „Explosion eines Flamingos nach unsachgemäßem Gebrauch“ könnten wohl ganze Jahrgänge von Kunst- und Germanistik-Studenten ihre Abhandlungen schreiben, die einen über das Bild, die anderen über den Titel.

Erkennerin von Kunstfälschungen

Doch wer ist die Frau hinter dem Flamingo? Annette Wiese, geboren 1964, wohnt schon ihr Leben lang in Neugraben. Im Alter von drei Jahren begann sie zu malen, inspiriert durch ihre Großmutter. Ein Jahr später kam sie zu einer Malschule in Neuwiedenthal, in der sie ganze Wände gestalten konnte. Motiviert durch ihren Kunstlehrer in der Oberstufe begann sie, Kunstkurse zu besuchen. Das macht sie bis heute. Seit nunmehr 10 Jahren ist sie in der Hamburger Kunsthalle aktiv, malt dort bei verschiedenen anderen Künstlern. Im letzten Jahr hat sie sich zudem als Gasthörerin an der Uni Hamburg eingeschrieben, erst für Kunstgeschichte, derzeit für Kulturanthropologie und Volkskunde. Besonders fasziniert haben sie die Vorlesungen zum Thema ‚Erkennen von Kunstfälschungen‘.

Tanz im Abendgrauen

Dabei hat sie beruflich zunächst ganz andere Wege eingeschlagen. In der Schule lernte sie neben Englisch auch Russisch, machte 1983 sogar ihre mündliche Abiturprüfung in dieser Sprache, die sie bis heute beherrscht. Ihr Berufsziel war es damals, Dolmetscherin zu werden. Stattdessen landete sie als Quereinsteigerin in einer Werbeagentur, wurde dort Texterin. Diese Tätigkeit liegt zwar schon mehr als 25 Jahre zurück, bisweilen kommt die Prägung aber auch heute noch bei Ihren Bildtiteln zum Vorschein, etwa bei „Tanz im Abendgrauen“ oder „Welle der Vernunft“.

Die nächste Wende kam, als sie ihren heutigen Ehemann kennenlernte, der Inhaber eines Malereibetriebs ist und mit dem sie drei Kinder hat. Sie stieg in den Betrieb ein und ist dort heute eine Art Mädchen für alles. Naja, fast alles: „Wände streichen überlasse ich lieber anderen“, sagt sie und lacht. Nichts desto trotz ist der Betrieb eine gute Materialquelle, z.B. für besondere Pinsel. Eine weitere wichtige Quelle ist die Firma Kremer Pigmente im Allgäu, wo ihre Schwester lebt: In einer zur Farbmühle umfunktionierten ehemaligen Getreidemühle werden dort besondere Pigmentfarben hergestellt, mit denen sie sich ihre Farben selbst anmischen kann. Ansonsten malt sie hauptsächlich mit Acryl.

Harburgerin aus Leidenschaft

Aber sie probiert auch viel aus, eine Zeit lang hat sie zum Beispiel häufig mit Spachteln gearbeitet. Außerdem bezieht sie gerne Zeitungsausschnitte in ihre Bilder mit ein. Aber nur ausländische Zeitungen, vorwiegend englische, russische, italienische und polnische. Warum polnische? Weiß sie auch nicht, das hat sich einfach so entwickelt. Inspirationen für neue Bilder holt sie sich vor allem beim Besuch von Ausstellungen. Ihr Lieblingsmaler ist Neo Rauch, einer der einflussreichsten Vertreter der sogenannten Neuen Leipziger Schule. Aber sie geht auch gerne in Expositionen eher unbekannter Künstler.

Es ist diese große mentale Offenheit, die sie auszeichnet. Offenheit gegenüber neuen Themen, Ideen und Menschen. So entsteht im Gespräch schnell eine vertraute Atmosphäre, obwohl wir uns erst seit einer Stunde kennen. Wir sprechen über Kunstgalerien auf Kreuzfahrtschiffen, Street Art in Rom und eine Fahrradreise von Neugraben zum Gardasee, die sie im letzten Jahr mit ihrem Mann unternommen hat. Und über Harburg. Viele schimpfen immer nur über diesen Stadtteil, aber sie fühlt sich wohl hier. Gerade den Binnenhafen findet sie sehr inspirierend. Wer mit ihr spricht merkt schnell: Annette Wiese ist Harburgerin aus Leidenschaft.

Zweifelsohne ist auch die Fischhalle ein Highlight in der Harburger Kulturszene. Sie wurde erst vor einigen Monaten wiedereröffnet. Die neuen Betreiber haben die über hundert Jahre alte und vormals etwas heruntergekommene Halle am Lotsekanal in ein gemütliches Bistro mit maritimem Flair und einer kleinen Bühne für Veranstaltungen verwandelt. Als Annette Wiese auf diese Location aufmerksam wurde, entstand im Spätsommer 2017 die Idee, hier im Herbst ihre Bilder auszustellen, ihre vierte große Ausstellung. Es folgte ein Anruf bei ihrer Freundin Gitte Lansmann, der Harburger Citymanagerin, um zu klären, ob der Termin für die Vernissage am 3. November mit irgendwelchen Straßensperrungen für Laternenumzüge oder ähnliches kollidiert. Das nicht, so erfuhr sie, aber einen Tag später fände der Harburger Kulturtag statt; ob sie sich daran nicht auch beteiligen wolle. So ist sie eher zufällig in diese Veranstaltung geraten – und vom Erfolg begeistert. Die Halle war voll, der Kuchen schon um 14 Uhr ausverkauft.

„Explosion eines Flamingos nach unsachgemäßem Gebrauch“

Wir kommen auf ihre Kunden zu sprechen. Annette Wiese berichtet mir von einigen interessanten Beobachtungen: Frauen kaufen eher die abstrakten Bilder, Männer die abstrusen. Außerdem suchen sich Frauen meistens Bilder aus, die sich dezent in die Einrichtung ihrer Wohnungen einpassen. Viele Männer hingegen wollen mit den Bildern auffallen.

Ihr bisher größtes Bild maß ca. 2×1,40 Meter; gerade so groß, dass es noch in ihren VW-Bus passte um zur Ausstellung transportiert zu werden. Ich frage sie, ob es ihr schwerfällt, die verkauften Bilder abzugeben. Eher nicht, so sagt sie mir. Sie müsse die Bilder nach der Fertigstellung zwar erst eine Weile behalten, aber dann könne sie sie gut weggeben. Zum einen hänge sie nicht so sehr an ihren eigenen Bildern, zum anderen sei es ihr lieber, wenn sie irgendwo hängen als wenn sie bei ihr herumliegen. In ihrem Privathaus habe sie nur ein einziges, aber das wird auch nicht verkauft.

So habe ich Annette Wiese als eine vielseitige und vor allem total sympathische Künstlerin erlebt, die es schafft, mit abstrakten Bildern und tiefgründigen Titeln zum Nachdenken anzuregen. Ihre Ausstellungen sind sicher immer einen Besuch wert. Aber nicht vergessen: „Wer Elfen ärgert, darf sich nicht wundern!“

Termin Vernissage:

Fr., 19. Okt. 2018,  19 Uhr, Vernissage Annette Wiese – „Das Bild hängt schief“, Fischhalle Harburg, Kanalplatz 16, 21079 Hamburg, fischhalle-harburg.de [1]

Abstraktes, Figürliches, gemalt mit dem Pinsel, den Händen oder gespachtelt.
Im Hochformat, im Querformat und mit Bildtiteln, die zum Nachdenken und Philosophieren anregen…

An der Gitarre: Michael Schindler, an der Leinwand: Annette Wiese

Eintritt frei!

 

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