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Der Impuls aus der Zukunft

Wir sind weltweit durch die Corona-Pandemie an einem Punkt angelangt, an dem herkömmliche vergangenheitsgeleitete Lösungsmuster für aktuelle Probleme nicht mehr passen. Die Kunst kann uns Antworten für die Zukunft geben. Kunst und Kultur sind daher mehr als nur ein freizeitschaffendes Beiwerk im gesellschaftlichen Zusammensein.

Von Ulrike Hinrichs

Die Corona-Pandemie habe eine überbordende Ungewissheit erzeugt. Die Zukunft erscheine völlig vernebelt. Kein Orientierung gebendes Narrativ könne sich durchsetzen. Die Aneignung der Zukunft durch stabile, handlungsanleitende Prognosen sei verschlossen, konstatieren der Direktor Jens Beckert und die wissenschaftliche Mitarbeiterin Lisa Suckert des Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln in ihrem lesenswerten FAZ Artikel (11. Jul. 2020) „Wie Corona die Zeit anhält und den Kapitalismus erschüttert“ [1]

Wir erleben derzeit, wie durch ein Brennglas schon seit langem latent wabernde Probleme nicht mehr übersehen werden können, Digitalisierung, Klimawandel, Polarisierung der Gesellschaft, Massentierhaltung, künstliche Intelligenz und ihre Folgen auch für den Arbeitsmarkt oder eine auf permanentes Wachstum ausgerichtete Wirtschaft bei gleichzeitig dramatisch abnehmenden Ressourcen auf der Welt, um nur einige zu nennen. Wir schauen angesichts dieser Herausforderungen in eine ungewisse, vernebelte Zukunft.

Die Soziobiologin und Psychologin Rebecca Costa konstatiert, dass Gesellschaften bei zunehmender Komplexität eine kognitive Schwelle erreichen, die sie untergehen lassen können, soweit sie diese Schwelle nicht überwinden. Die Autorin erläutert, in welche fünf typischen Fallen Gesellschaften (Supermeme) und Individuen bei dem Versuch der Lösung von komplexen Problemen hereingeraten können. Traditionelle Problemlösungsmethoden unter Einsatz vergangenheitsgeleiteter, analytischer Wiederholungsmuster helfen laut Costa in solchen Schwellensituationen, wie wir sie auch gerade weltweit erleben, nicht mehr weiter. Mit zunehmender Komplexität verbergen sich Lösungen hinter „spontanen Erkenntnissen“, die wir mittels unserer Intuition erlangen.  Costa meint, dass bei hoher Komplexität und Größenordnung der Probleme die biologischen Fähigkeiten des Gehirns an ihre Grenzen stoßen.  „Während traditionelle Problemlösungsmethoden unter Einsatz der rechten und linken Gehirnhälfte von der Komplexität gelähmt werden, blüht die (spontane) Erkenntnis im Chaos auf – wie ein hypereffizienter Editor, der in der Lage ist, in Sekundenschnelle lösungsrelevante Fakten von unwichtigen zu trennen“  (S. 242).

In meinem Buch „Kunst als Sprache der Intuition“  [2]habe ich mich genau mit diesem Thema auseinandergesetzt. Solche existenziellen Krisen können sich ebenso auf einer kollektiven wie individuellen Ebene zeigen. Wovon lassen wir uns leiten, wenn der rationale Verstand nicht mehr weiter weiß, auch weil herkömmliche Lösungsstrategien einfach nicht mehr passen?

Nicht nur Costa setzt auf die Zuhilfenahme spontaner Erkenntnisse, die man auch synonym als Intuition beschreiben kann. Otto Scharmer, weltweit Berater für große Unternehmen und NGOs, entwickelte für das intuitive Führen in Unternehmen die „Theorie U“, die eine Anleitung für das Auffinden zukunftsgeleiteter Lösung über die Aktivierung der Intuition gibt. Er stellt dar, wie durch die Öffnung des Denkens, die Öffnung des Fühlens und die Öffnung des Willens vergangenheitsgeleitete Muster aus der Gewohnheitswelt unterbrochen  und Lösungen aus der im Entstehen begriffenen Zukunft gefunden (precencing) werden können (Intuition). Diese Zukunftsintelligenz basierte Idee vertritt auch Slomo Shoam, ehemaliger israelischer Richter und Gründer der Sustainable Global Leadership Academy.

Die  Ethnologin Dr. Kessler beschreibt das intuitiv-fühlende Denken als wildes Denken, das eine fluide, kreative, luzide Intelligenz hervorbringe. Und nicht zuletzt der Nobelpreisträger Daniel Kahnemann, der zwei Grundformen des Denkens unterscheidet, beschäftigt sich mit der Unterscheidung zwischen dem schnellen assoziativen Denken und dem langsamen rationalen Denken (Kunst ist wildes Denken [3]).

Die individuellen Zugänge zur Intuition sind unterschiedlich (Perfektionismus ist der Todfeind der Intuition [4]). Künstlerische Prozesse wecken die Intuition (Mit der Kunst die Intuition einfangen [5]). Das gilt für das Erschaffen von Kunst ebenso wie für das Betrachten. Durch Resonanz spricht ein Kunstwerk unbewusste intuitive Themen des Betrachters oder eines ganzen gesellschaftlichen Kollektives an. Kunst und Kultur sind daher mehr als nur ein freizeitschaffendes Beiwerk im gesellschaftlichen Zusammensein. Kunst schafft Ausdrucks- und Begegnungsformen, die auf einer rational-kommunikativen Ebene nicht erreicht werden können. Kunst kann die tieferen Schichten kollektiv unbewusster Themen aufdecken. Kunst schafft es, Widersprüche zu zeigen,  Sprachlosigkeit sichtbar zu machen und in einen Diskurs zu kommen, der von Mitgefühl und Verbundenheit getragen ist.

Ich habe in der Vergangenheit bei verschiedenen von mir gestarteten Kunstprojekten im Hamburger Süden erlebt, wie die Kunst eine wirkliche Verbindung zwischen Menschen unterschiedlichster Herkunft oder gesellschaftlicher Schichten schaffen kann. Beim Projekt „Wir sind Harburg“ [6] und der anschließenden Ausstellung auf dem Harburger Kulturtag 2017 sind beteiligte Künstler*innen aus Syrien und dem Irak, die seinerzeit noch kaum ein Wort Deutsch sprachen, über die Kunstwerke mit den Besucher*innen mühelos in Kontakt gekommen. Mich hat das damals sehr beeindruckt, zumal die Stimmung in der Bevölkerung zur Flüchtlingszuwanderung deutlich gekippt war und sich rechte Parolen Raum schafften.  Kunst öffnet Herzen und verbindet. Das künstlerische Grundrechteprojekt „Gemalte Freiheit“ [7] (2018), brachte die Beteiligten nicht nur beim Erschaffen der Kunstwerke in einen interessanten und regen Diskussionsaustausch. Bei der Ausstellung der Werke gab es ebenfalls vermittelt über die Kunstwerke einen kreativen Bürgerdialog zu unseren Verfassungsgrundwerten (Grundrechte sorgten für volles Haus [8]).

Kunst ist eine Ausdrucksform, die aus meiner Sicht auch im gesellschaftspolitischen Dialog noch sehr viel mehr als kreativer Lösungsmotor Beachtung finden sollte. In diesem Jahr läuft in Harburg ein von mir angestoßenes Kunstprojekt „Kriegskinder – Die Schatten der Vergangenheit“ [9], bei dem es um unverarbeitete kollektive Traumata aus Krieg und Vertreibung geht. Wir dürfen gespannt sein. Die Ausstellung wird am 8.11.2020 im Rahmen des Harburger Kulturtages in der St. Johanneskirche präsentiert und ist Bestandteil der Harburger Gedenktage. Das Projekt wird gefördert durch „Lokale Partnerschaften Harburg und Süderelbe“ sowie das Bundesprogramm „Demokratie leben“.

Literatur

Costa, Rebecca (2012).Kollaps oder Evolution? Wie wir den Untergang unserer Welt verhindern können. Weinheim: Wiley-VCH.

Kahnemann, Daniel (2011). „Schnelles denken, langsames Denken“, Penguin Verlag

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