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Der liebevolle Plünnhöker

Er war fließig, hilfsbereit und hatte sich um seine Familie gut gesorgt. Kurz vor dem verdienten Ruhestand machen ihm die Nazis einen Strich durch die Rechnung.

Der ehemalige Nachbar Leo Kunkolewski erinnerte sich in einem Interview der Geschichtswerkstatt Wilhelmsburg Anfang der 1990er Jahre an die Siegmund Libis und seine Familie: „Die Liebis [sic!] hatten zwei Kinder, Edith und Harry. Er war Rohproduktenhändler, wir haben immer Plünnhöker gesagt, plattdeutsch. Er sammelte Altwaren, aber er stand sich sehr gut. Er besaß mehrere Häuser in der Kanalstraße zum Ernst-August-Kanal hinunter. In einem dieser Häuser wohnte die Familie. Er hatte kein Geschäft, nur einen Lagerplatz und einen Schuppen. Dort hat er die Sachen gesammelt und sortiert und von anderen Großhändlern abholen lassen. Ich habe ihn immer mit der Karre rumfahren gesehen, früher hatte man ja die Schottsche Karre mit den beiden großen Rädern, die schob er immer und zog damit durch die Gegend. Seine Frau hatte ein Konfitürengeschäft. Die Tochter ging erst zum Gymnasium, später arbeitete sie mit im Geschäft. Soweit mir bekannt ist, war der Liebis ein religiöser Jude.“

„Wir haben ihm Essen gebracht“

 Weiter heißt es: „Er war auch ein hilfsbereiter Mensch. Andere Nachbarn können sich daran erinnern, wie er sie mit seinen kaufmännischen Fähigkeiten beim Schriftverkehr mit Behörden unterstützte. Er schrieb für die Leute. Als Liebis seinen Beruf nicht mehr ausüben durfte, gab es Nachbarn, die ihn und seine Familie mit versorgten: Wir haben ihm immer Essen gebracht. Eines Tages sind wir dafür angeschwärzt worden. Dann kam die Gestapo und drohte meinem Vater mit der Erschießung. Kurz danach haben sie den Liebis abgeholt und er ist nicht wiedergekommen.“

„Im freiern Sinn zu erziehen“

Siegmund Libis wurde als zweites Kind des Kaufmanns Moses Libis und seiner Ehefrau Johanne, geborene Meyer, am 11. April 1878 in Hamburg geboren. Er hatte fünf Geschwister. Später ging er auf die Stiftungsschule von 1815. Diese war 1815 als Israelitische Freischule in Hamburg gegründet worden, „um jüdische arme Knaben in einem freiern Sinne zu erziehen“. Die Schülerzahl stieg rasch an. Unter ihrem Direktor Anton Rée (Amtszeit von 1848–1891) wurden ab 1852 auch christliche Schüler aufgenommen. Anton Rée vertrat die Auffassung, dass vor allem die jiddische Sprache die Juden in der Stadt isolierte und sie im Erwerbs- und gesellschaftlichen Leben benachteiligte. Die Schule richtete somit auf den Deutschunterricht ihr besonderes Augenmerk und bereitete die Jungen auf einen (Handwerks-)Beruf vor. Am 12. April 1882 gingen auf die „höhere Bürgerschule ohne Latein mit neun Jahres-Cursen“ insgesamt 709 Schüler, davon 253 jüdische, 450 christliche und sechs konfessionslose. Vermutlich zwei oder drei Jahre später, wurde Siegmund Libis in die Schule am Zeughausmarkt Nr. 32 eingeschult.

Aus alt mach neu

Danach begann er eine Ausbildung bei dem Produktenhändler Kupferstein in Lüneburg, die er abbrach, weil „sein Chef ihn mit seiner Tochter verheiraten wollte„. Ein Rohproduktenhändler sammelte Abfall- und Altstoffe, z. B. Altpapier, Lumpen, Metalle, Leder, tierische Abfälle, aus Haushalt und Gewerbe und verkaufte diese weiter. Siegmund Libis ließ sich im Januar 1904 in Harburg als Produktenhändler nieder.

Hier lernte er Frida Bluman kennen, sie war als Tochter des Viehhändlers Siegmund Bluman und seiner Ehefrau Karoline, geborene Grünewald, in Harburg zur Welt gekommen. Siegmund Libis und Frida heirateten am 31. Juli 1904. Sie hatte vor ihrer Ehe als Verkäuferin gearbeitet. Das Paar lebte zunächst in der Bremerstraße 129 in Harburg.

Am 28.8.1904 wurde in Harburg der gemeinsame Sohn Harry geboren. Die Familie zog am 1. November 1904 in die Wilstorfer Straße 10 und im März 1908 in die Fährstraße 34 nach Wilhelmsburg, wo 1908 ihre Tochter Edith geboren wurde.

Fürs Reich gekämpft

In Wilhelmsburg betrieb Frida Libis 1909/10 einen Handel mit Partiewaren von der Veringstraße 24 aus und Siegmund Libis 1913/14 seine (Roh-)Produktenhandlung Am kleinen Kanal 21. Im Mai 1912 zog die Familie des Lumpenhändlers Siegmund Libis von Wilhelmsburg in die Schlachterstraße 7 nach Hamburg. Bereits kurz nach Beginn des Ersten Weltkrieges wurde Siegmund Libis als Landsturmmann zum Küstenschutz nach Westerland (Sylt) eingezogen und später als Infanterist an die Front in Frankreich abkommandiert. Im Verlauf des Krieges wurde er verletzt. Nach seiner Entlassung im November 1918 kehrte er nach Hamburg zurück. Frida Libis hatte in der Zwischenzeit eine amtliche Knochenankaufstelle in der Nähe der „grossen Michaeliskirche“ eröffnet und mit ihren Einnahmen die Familie ernährt. Sie und die beiden Kinder lebten in Hamburg.

Nach der Rückkehr des Vaters zog die Familie nach Ahrensburg. Dort hatte Siegmund Libis ein „Gewese“ (Anwesen) gekauft und Land gepachtet. Die folgenden Jahre waren für die Familie von vielen Umzügen geprägt. Bereits 1919/20 lebte die Familie wieder in Hamburg im Haus Rappstraße 3 im Grindelviertel und wenige Jahre später Beim Schlump 23.

Der Arbeitgeber

1929 zog sie nach Kaltenkirchen, dort hatte Siegmund Libis ein Grundstück in der Friedenstraße 13 erworben, welches er bereits im darauffolgenden Jahr wieder verkaufte. Schließlich ließ sich die Familie am 3. August 1931 in Wilhelmsburg im Haus Kanalstraße 160 nieder. Seine Geschäfte führte Siegmund Libis schon seit einigen Jahren von seinem Kontor in Wilhelmsburg in der Kanalstraße 160 (heute: Karl-Kunert-Straße) aus. Mittlerweile besaß er dort mehrere Häuser in der Schulstraße (später: Kanalstraße, heute: Karl-Kunert-Straße). In diesen, mit vermutlich den damals üblichen Wohnungsgrößen von ein bis zwei Zimmern, lebten 1926 zum Großteil Arbeiter, aber auch Handwerker, mit ihren Familien.

Ab 1. April 1933 betrieb Siegmund Libis gemeinsam mit seinem Sohn Harry eine Putzlappenfabrik und -wäscherei, die ihren Sitz ebenfalls in der Kanalstraße 160 hatte. Hier arbeiteten vier bis sieben Arbeiterinnen an drei großen Waschmaschinen und einem Dampfkessel.

Arisierung als Enteignung

Siegmund Libis wurde im Rahmen der so genannten Juni-Aktion 1938 festgenommen. Die Kriminalpolizei verhaftete über 10.000 Menschen und verschleppte sie in Konzentrationslager. Neben Landstreichern, Prostituierten und Bettlern verhaftete sie „auch alle männlichen Juden, die mit Bagatelldelikten, d. h. die mit einer [oftmals schon lange zurück liegenden] Gefängnisstrafe von mehr als einem Monat bestraft“ worden waren. Die Hamburger Verhafteten kamen ins KZ Sachsenhausen. Siegmund Libis war seit den 1910er Jahren wegen Hehlerei vorbestraft und wurde vermutlich deshalb festgenommen. Zwischen fünf und sechs Uhr verhaftete die Kriminalpolizei ihn am Morgen des 16. Juni 1938 und lieferte ihn in das Kola-Fu ein. Aus der so genannten Schutzhaft wurde er am 23. Juni 1938 in das KZ Sachsenhausen überstellt und dort am 6. September 1938 entlassen. Libis wurde gezwungen, seine Firma zu verkaufen, die nachfolgend „arisiert“ wurde. Am 15. Oktober 1938 meldete er „sein Gewerbe als Waschen von Lumpen und Putzlappenherstellung“ ab.

Am 28. Oktober 1938, wanderte der Sohn Harry nach Paraguay aus.

Im Zuge des Novemberpogroms am 9. November 1938 wurde Siegmund Libis erneut im KZ Sachsenhausen inhaftiert. Nach Wilhelmsburg kam er am 23. November 1938 zurück und musste jetzt Zwangsarbeit im Straßenbau leisten. Der Amtsarzt befreite ihn aufgrund seiner Herzkrankheit schließlich von dieser schweren Arbeit. Das Ehepaar Libis bereitete weiter die Auswanderung nach Südamerika vor, diese scheiterte jedoch wegen des schlechten Gesundheitszustandes von Siegmund Libis.

„Pflichtarbeit“

Frida und Siegmund Libis zogen am 20. April 1939 nach Hamburg in die Fehlandtstraße 35 und von dort schon bald, am 26. Mai 1939, wieder nach Wilhelmsburg zurück, ins Haus Kanalstraße 160. Dieses Haus hatten sie 1935 ihrer Tochter Edith überschrieben, dort konnten sie mietfrei wohnen. Anfang des Jahres 1940 leisteten Frida und Siegmund Libis „Pflichtarbeit“ in der Wilhelmsburger Wollkämmerei. Das Ehepaar erhielt einen Wochenlohn von 50 RM.

„Sicherungsanordnung“

Die Grundstücke Kanalstraße 159/161 und 163/165 verkaufte Siegmund Libis schließlich im April 1940. Siegmund Libis schätzte den Verkaufswert der Grundstücke auf 100000 RM, sie waren mit einer Hypothek von 90000 RM belastet. Nach Abschluss des Verkaufes gab Siegmund Libis am 7. Mai 1940 an, dass seine Hypothek 3050 RM betragen würde und er keinen Grundbesitz mehr habe, wohl aber aus seinem Altenteil (dem Grundstück seiner Tochter Edith Eggers) 60 RM sowie eine freie Wohnung erhielte. Die Summe seines Barvermögens betrug 50 RM. Am 30. Oktober 1940 verhängte die Devisenstelle die „Sicherungsanordnung“ über das Konto von Siegmund Libis. Als monatlichen Unterhalt durfte das Ehepaar über 150 RM verfügen.

Das Paar musste am 14. Januar 1941 endgültig Wilhelmsburg verlassen und zog an den Grindelberg 7a. Im Oktober 1941 war das Vermögen der Familie aufgebraucht. Frida und der fast erblindete Siegmund Libis lebten zu­sammen mit ihrer Tochter Edith von einer monatlichen Unterstützung von 39 RM. Im Alter von 63 Jahren wurden Frida und Siegmund Libis gemeinsam mit ihrer Tochter Edith am 8. November 1941 nach Minsk deportiert.

Die Stolpersteine für Edith Eggers und ihre Eltern Frida und Siegmund Libis liegen an der Ecke Karl-Kunert-Straße, Ecke Kunertweg in der Parkanlage. Dort hat vermutlich das ehemalige Haus Kanalstraße 160 gestanden.

© Barbara Günther

Quellen: 1; 5; 2 (Fvg7498,R 1940/455); StaH, 332-8 Meldewesen, K 7565; StaH,,430-61 Amt und Landratsamt Harburg, II 10-142; Recherche und Auskunft des Archivs der Stadt Kaltenkirchen vom 4.11.2011; Recherche und Auskunft des Archivs der Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen vom 18.11.2011; Adressbuch 1883; StaH, Adressbuch Harburg 1908; StaH, Wilhelmsburger Adressbücher; Stein, Baudenkmäler, S. 63–65; Geschichtswerkstatt Wilhelmsburg (Hrsg.), Zerbrochene Zeit, S. 130; Berth, Kindertransporte, S. 7; Baumbach, Freischule; Lohalm, Judenverfolgung, S. 28.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link „Recherche und Quellen.“

Quelle: stolpersteine-hamburg.de [1]

weiterführend: www.gedenken-in-harburg.de [2]

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