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Ein Plädoyer für die Langeweile

Der lange vernachlässigte Begriff Langeweile erfährt gegenwärtig eine unerwartete Renaissance. Ist Langeweile gesund oder langweilt man sich zu Tode, wie der Volksmund sagt?

 Von Ulrike Hinrichs

Unsere herkömmliche Alltagsroutine existiert in der Corona Pandemie jedenfalls nicht mehr und die Langeweile breitet sich exponentiell aus.

Einige Menschen haben zwar zu viel zu tun, etwa weil sie in „systemrelevanten“ Berufen arbeiten, andere aber sitzen in Kurzarbeit oder als Soloselbständige unter Kontaktbeschränkungen zu Hause. Die Kinder sehnen sich die einst verhasste Schule zurück, weil Homeschooling mit Eltern und rein digitale Kontakte zu Freunden mürbe machen. Sämtliche Freizeitaktivitäten, von Kickboxen bis Kirchenchor, sind ebenfalls gestrichen.

Welche Auswirkungen hat die neue kollektive Langeweile? Studien haben gezeigt, dass es die Langeweile gar nicht gibt, sondern eher unterschiedliche Formen, je nachdem wie die Gelangweilten sie empfinden. Hinzu kommt bei der Beurteilung der erlebten Langeweile der individuelle Erregungszustand, der von sehr entspannt bis apathisch-depressiv reichen kann (Gehrin&Geist S. 71). Die Forscher konstatieren verschiedene Formen der Langeweile. Die so genannte indifferente Langeweile bezeichnet einen positiven und entspannten Zustand der Routine oder auch Unterforderung. Schwerer wiegt die kalibrierende Langeweile, bei der die innere Unzufriedenheit und damit auch der Erregungszustand zunehmen und man nach neuen Anregungen sucht. Bei der sich anschließenden suchenden Langeweile wird der Wunsch nach neuen Impulsen stärker, der Gelangweilte sucht konkret nach neuen Aufgaben.  Bleibt die Veränderungswunsch erfolglos, steigern sich die innere Unzufriedenheit, der Ärger und die Ruhelosigkeit zu einer reaktanten Langeweile. Den inneren Super Gau bildet allerdings die apathische Langeweile, die einer Depression ähnelt. Der Gelangweilte erlebt sich handlungs- und bewegungsunfähig.

Wir alle haben schon unterschiedliche Garde der Langeweile erlebt. Gerade im Arbeitskontext kann unterfordernde Langweile  tatsächlich auch krank machen, weil man jedenfalls als abhängig Beschäftigter der Situation – anders als im privaten Bereich  – nicht entkommen kann. Der Begriff „Boreout“ hat sich dafür etabliert. Er beschreibt einen negativen Zustand der dauerhaften Unterforderung, die zu Symptomen wie Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Niedergeschlagenheit bis hin zu Depressionen führen kann.

Die Stufenbeschreibung der Langeweile je nach innerem Erregungszustand zeigt aber auch die positive Kraft der Langeweile. Wir alle kennen diese innere angespannte Unruhe und den kribbelnden Wunsch nach Veränderung, der in einer Situation entsteht, in der wir uns langeweilen. Die Zeit dehnt sich aus, fließt extrem zäh und unendlich langsam. Wenn wir aber diese Langeweile annehmen und auch aushalten, explodieren unbemerkt im Gehirn kreative Feuerwerke, die mit einer plötzlichen Idee, einem inneren Impuls in die Realität gespuckt werden. In der Langeweile, dem Dazwischen, zwischen zu viel Denken,  Planen und Kontrollieren, zwischen Alltagsroutine und Freizeitstress kann etwas Unerwartetes passieren. Wir kommen in Kontakt mit dem Nichts. Alte Ideen und Wünsche werden wieder wach, fast vergessene Sehnsüchte steigen auf, verworfene Projekte wollen wiederentdeckt werden.

Der promovierte Ökonom, Professor für Management und Autor des Buches „Theorie U – Von der Zukunft her führen“, Otto Scharmer spricht vom Impuls aus der Zukunft, der sich zeigt, wenn wir herunterfahren und uns mit dem inneren Ort der Stille, dem großen Nichts verbinden. Hier zeigen sich unsere höchsten zukünftigen Möglichkeiten, so Scharmer. Wir erleben gerade in der Pandemie-Zeit viele neue gesellschaftliche Impulse. Vielleicht haben Sie auch bei sich selbst schon bemerkt, wie neue Ideen entstehen und gelebt werden wollen. Nein? Dann langweilen Sie sich bitte und lassen sich überraschen, was möglich wird!

Literatur

 

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