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Man nahm ihr das Vieh, dann das Leben

Sie wohnte als Witwe in der Rathausstraße 22 (heute Harburger Rathausstraße 45), hatte drei Kinder und handelte mit Vieh. Erst nahm man ihr den Handel, dann die Heimat, dann das Leben.

Johanna Bachenheimer kam 1869 als Tochter des jüdischen Viehhändlers Heinemann Bachenheimer und seiner Ehefrau Hindel kurz nach der preußischen Annexion Kurhessens zur Welt. In ihrem Geburtsort Rauischholzhausen waren 1861 insgesamt 78 (11,9%) der 645 Einwohner dieses Ortes jüdischen Glaubens. Sie waren eine relativ geschlossene Gruppe innerhalb der Dorfbevölkerung.

Ab 1869 galt auch für sie wie in den anderen Landesteilen Preußens die bürgerliche Gleichstellung aller in diesem Königreich lebenden Menschen, doch änderte sich vorerst nur wenig am gesellschaftlichen Gefüge des Ortes. Die Unterschiede in der Berufsstruktur blieben weiterhin noch bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts bestehen. Während sich die christliche Bevölkerung vorwiegend handwerklich und als Aushilfen bei der Arbeit auf den wenigen selbständigen Bauernhöfen betätigte, lebte die jüdische Bevölkerung vor allem vom selbständigen Handel.

Ihre Kenntnisse waren gefragt

Eine ganz besondere Rolle spielte dabei der Viehhandel, der vorwiegend nicht nur in Rauischholzhausen, sondern auch im umliegenden Landkreis Kirchhain von jüdischen Händlern ausgeübt wurde. Hier wurde auch im 20. Jahrhundert noch teilweise Jiddisch gesprochen. Viehhandel war auch in anderen Gegenden des Deutschen Reiches ein bevorzugtes Gewerbe für Juden. Sie verfügten oft aufgrund ihrer strengen rituellen Schlachtvorschriften über Spezialkenntnisse bei der Qualitätsprüfung und Begutachtung des Viehs und überblickten aufgrund ihrer traditionellen und familiären Beziehungen den überregionalen Handelsverkehr für Schlacht- und Nutztiere besonders gut. Sie gewährten den Bauern nicht selten Kredit und zahlten in der Regel bar auf die Hand, was viele Kunden sehr zu schätzen wussten. Die Vieh- und Pferdehändler Rauischholzhausens hatten ihren festen Kundenstamm in vielen umliegenden Dörfern, die sie regelmäßig, meist mit kleinen Pferdewagen besuchten. In Marburg und Gießen waren die nächstgelegenen Pferdemärkte, in Kirchhain der nächste Viehmarkt.

Erschwerte Integration

Die jüdische Gemeinde des Dorfes war streng orthodox geprägt, was nicht zuletzt ihre Integration in die Mehrheitsgesellschaft erschwerte. Die religiösen Speisevorschriften hatten für die jüdischen Familien absolute Gültigkeit, und die religiösen Feiertage waren ihnen in jeder Hinsicht heilig. Die jüdischen Kinder gingen beispielsweise samstags nicht zur Schule. Die unterschiedlichen religiösen Riten und Gebräuche stellten sicherlich eine gewisse Hürde dar und könnten eine Erklärung dafür sein, dass die Beziehungen zur nichtjüdischen Bevölkerung weitgehend auf nachbarschaftliche Kontakte und Handelsgeschäfte beschränkt blieben; Eheschließungen mit Christern kamen nicht vor, tiefe Freundschaften blieben eher die Ausnahme.

Die Böckel-Bewegung

In den 1880er Jahren wurde die Provinz Hessen-Nassau und hier vornehmlich der Landkreis Kirchhain zur Hochburg der radikal antisemitischen Bauernbewegung um den Marburger Hilfsbibliothekar, Publizisten und Volksliedforscher Otto Böckel. Dieser gab sich in diesen Jahren des Umbruchs der kleinbäuerlichen Lebenswelt als Hüter der „deutschen Volkskultur“ aus, die von „jüdischen Parasiten“ bedroht sei. Als antisemitischer Agitator zog er durch die hessischen Dörfer und fand vor allem unter Kleinbauern begeisterte Anhänger. 1887 wurde Böckel im Wahlkreis Marburg-Kirchhain-Frankenberg-Vöhl mit 56,6% der Stimmen in den Reichstag gewählt, dem er über 15 Jahre angehörte. 1890 gründete er die Antisemitische Volkspartei, die sich drei Jahre später in Deutsche Reformpartei umbenannte. Es kam zur Errichtung „judenfreier“ Viehmärkte, landwirtschaftlicher Kooperativen und antisemitischer Rechtsberatungs- und Rechtsschutzbüros. Die im Mitteldeutschen Bauernverein organisierte ländliche Bauernschaft feierte Böckel als „zweiten Martin Luther“.

Die Böckel-Bewegung zeitigte für die meisten im Landkreis Kirchhain tätigen jüdischen Händler starke ökonomische Folgen und verursachte eine erhebliche Landflucht jüdischer Bewohnerinnen und Bewohner. Auch in Rauischholzhausen verringerte sich die jüdische Bevölkerung zwischen 1861 und 1905 um 26 Personen, mithin um 33%.

Gute Aussichten in Harburg

Zu den Menschen, die den Ort verließen, gehörte auch Johanna Bachenheimer. Auf der Suche nach einer besseren Heimat fand sie mit ihrem Mann, Adolf Horwitz (geb. 2. Dez. 1868), ein neues Zuhause in der preußischen Kreisstadt Harburg an der Elbe. Ihr Ehepartner stammte ebenfalls aus einem jüdischen Elternhaus im benachbarten Lüneburg und war offenbar guter Hoffnung, im Harburger Umland günstige Voraussetzungen für den Aufbau und Ausbau einer beruflichen Existenz als Viehhändler in der Tradition seiner Familie gefunden zu haben. Das junge Ehepaar wohnte um die Jahrhundertwende so zunächst in der (Harburger) Rathausstraße. Link zur Karte: googlemap [1]

Dort kamen auch ihre Kinder Gertrud (geb. 10. Dez. 1898), Kurt (geb. 28. Jun 1900) und Elfriede Horwitz (geb. 29. Aug. 1904) zur Welt.

Als Adolf Horwitz im April 1915 im Alter von 47 Jahren starb und auf dem jüdischen Friedhof in Harburg beigesetzt wurde, führte seine Witwe den Betrieb weiter. Dabei bewies sie offenbar viel Geschick im Umgang mit dem Kundenstamm ihres Mannes. Jahrelang konnte sie sich nach dem Ersten Weltkrieg auf einem auch in dieser Branche hart umkämpften Markt gegen ihre männliche, jüdische und nichtjüdische Konkurrenz behaupten. Erst nach 1933 geriet sie in wirtschaftliche Probleme. Die Nationalsozialisten bekämpften den jüdischen Viehhandel von Anfang an mit besonderer Schärfe und verboten ihn schließlich ganz durch eine Verordnung vom 25. Januar 1937.

Deportation nach Theresienstadt

Danach zog Johanna Horwitz nach Flacht in Hessen. Am 27. September 1942 gehörte sie zu den 1288 vorwiegend alten Personen, die in einem Großtransport von Mainz in das Ghetto Theresienstadt deportiert wurden.

Das Lager war in dieser Zeit heillos überfüllt. Im September 1942 lebten mehr als 58.000 Menschen in dieser einstigen Garnisonsstadt, in der vor dem Zweiten Weltkrieg nur 7.000 Einwohner gezählt worden waren. Diese Überfüllung hatte katastrophale Folgen für die Unterbringung, die Verpflegung und die medizinische Versorgung aller Lagerbewohnerinnen und -bewohner. Sie mussten froh sein, wenn sie überhaupt irgendwo einen Schlafplatz fanden und wenigstens einmal am Tag eine warme Wassersuppe ergatterten. Der Krankenstand stieg von Tag zu Tag, und die Ärzte waren angesichts der mangelhaften medizinischen Ausstattung nicht in der Lage, dies zu ändern. Den unmenschlichen Lebensbedingungen waren die alten Menschen am allerwenigsten gewachsen. Sie erkrankten am häufigsten an permanentem Durchfall, Tuberkulose und Bauchtyphus und stellten den größten Anteil der Menschen, die an diesen Krankheiten im Ghetto Theresienstadt starben.

Von den 1.288 Menschen, die Mainz am 27. September 1942 in Richtung Theresienstadt verlassen hatten, waren am Ende des Zweiten Weltkriegs nur noch 89 am Leben. Johanna Horwitz war nicht darunter. Sie starb am 9. April 1944 im Alter von 75 Jahren.

Stand: November 2016
© Klaus Möller, www.gedenken-in-harburg.de [2]

(leichte Überarbeitung für ´Tiefgang` v. Heiko Langanke)

weiterführender Link: stolpersteine-hamburg.de [3]

 

 

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