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30 Jahre www

Tim Berners-Lee erfand vor 30 Jahre das world wide web. Heute hegt er selbst Zweifel an seiner Sinnhaftigkeit. 

Es ist aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Keine Busfahrt, in der nicht mehr als die Hälfte der Benutzer in ihre Smartphones vertieft ist. Kaum ein Brief, der nicht per elektronischer Zustellung aus- oder eingeht. Kaum ein Wissen, das nicht „gegoogelt“ wird.

Unser Leben hat sich grundlegend verändert. Manches macht uns zufriedener, manches treibt uns in den Wahnsinn. Die Grundidee hinter dem technischen Netzgedanken war, der Wissenschaft eine Möglichkeit zu geben, sich auszutauschen und so Erkenntnisse schnell und für alle zugänglich der menschlichen Entwicklung verfügbar zu machen. Passiert ist etwas ganz anderes: Nerds in T-Shirts und kurzen Hosen bestimmten auf einmal das Bild vom aufstrebenden Jung-Unternehmer. Die Schwarmintelligenz wurde einige Zeit zum Antrieb der Entwicklung erkoren und Werbung und Handel wurden plötzlich von der Mensch-zu-Mensch-Beziehung abgekoppelt und auf einen Algorithmus reduziert. Alles schient im Programm angelegt, berechenbar und durch „wenn – dann“-Formeln absehbar.

Zu recht fragte die FAZ online: „Fraglich ist hingegen, ob Berners-Lees Vision eines Internets, in dem sich – zugespitzt gesprochen – alle Beteiligten stets konstruktiv austauschen und im Streitfall Kompromisse suchen, die zumindest niemanden schlechter stellen, mehr ist als eine schöne Illusion. Weder politische noch wirtschaftliche Grundregeln hat das Netz bislang außer Kraft gesetzt.“ (FAZ online vom 12. März 2019 [1])

Kurzum: zu besseren Menschen hat uns das world wide web (noch) nicht gemacht. Wohl aber zu Getriebenen. Alles wird schneller, ist permanent verfügbar und zwingt uns auf, zu allem und jeden umgehend eine Meinung zu bilden. Meinungsbildung – und erst recht nicht Erkenntnisgewinn – heißt dies aber noch lange nicht. Und so ist auch die Willensbildung im pluralistischen, demokratischen Raum keine wahre Bildung eines durchdachten Willens. Im Grunde haben sich viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens auf Oberflächen reduziert – wie eben die Bildschirme unserer Rechner. Was im Hintergrund wirklich passiert – ob Systemabsturz oder einfach begrenzte Rechnerkapazitäten – bleibt im Verborgenen. Wie schon früher… Vielleicht also ist das Jubiläum ein guter Anlass, mal in sich zu gehen und zu fragen, welche Relevanz das www eigentlich für uns selbst hat.

Berners-Lee schreibt: „Das Netz ist für alle da und zusammen haben wir die Macht, es zu verändern. Es wird nicht einfach sein. Aber wenn wir ein bisschen träumen und viel arbeiten, können wir das Netz bekommen, das wir wollen.“ (FAZ online: „Internet-Pionier Berners-Lee: Wie wir das Netz bekommen, das wir wollen“ [2])

Liest sich verträumt, meint aber harte Arbeit.

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