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Auch eine Mozart-Messe braucht Mäzeen

Oratorien, Kantaten oder Gospel – Kirchenmusik stirbt nicht aus, hat aber auch ein echtes Live-Problem. Rainer Schmitz will dies ändern und hat viel zu bieten. ´Tiefgang` sprach mit dem Harburger Kirchenmusiker der Gemeinden St. Trinitas, St. Paulus und St. Petrus und seinen Plänen …

Tiefgang (TG): Es wird einen „Förderkreis Forum Klangkultur Harburg“ geben, der es sich zur Aufgabe macht, die kirchenmusikalische Arbeit in Harburg zu unterstützen. Was findet denn bisher überhaupt statt?

Rainer Schmitz: Wie der Name schon sagt, ist die Kirchenmusik ein Bereich der musikalischen Landschaft, den man vorwiegend, aber nicht nur, in Kirchen erleben kann. Die Präambel unseres Kirchenmusikgesetzes – ja, das gibt es wirklich! – sagt es so: „Kirchenmusik ist Verkündigung mit den Mitteln der Musik“. Deshalb ist sie von jeher ein wesentlicher Bestandteil christlicher Gottesdienste und hat dort ihren eigentlichen Platz.

Weil aber viele der bedeutendsten Kirchenmusiker große Komponisten waren, werden ihre Werke auch in Konzerten gespielt, um sie einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Denken Sie zum Beispiel an Johann Sebastian Bach und sein „Weihnachtsoratorium“. In Harburg können Sie Kirchenmusik in ihrer ganzen Vielfalt erleben, in der Harburger Innenstadt aber eher die klassische Seite. Das geht vom großen Oratorium mit zuweilen über 200 Mitwirkenden bis hin zum Liederabend, vom Orgelkonzert bis zum Kantaten-gottesdienst.

TG: Der Förderkreis gilt für die Harburger Gemeinden St. Trinitatis, Luther, St. Paulus und St. Petrus. Ein Angebot vor allem für die Gemeindemitglieder dort oder für alle musikalisch Interessierten?

Schmitz: Selbstverständlich richten sich die Angebote an alle musikalisch Interessierten. Sie können unsere Konzerte besuchen oder aktiv in den musikalischen Gruppen mitwirken.

 TG: Kirchenmusik – da denken viele junge Leute an Chor, Orgel oder vielleicht auch Gospel. Aber was ist Kirchenmusik aktuell und welchen Ursprung hat sie?

 Mehrstimmigkeit ist eine Erfindung der Kirchenmusik

Schmitz: Auf unserem aktuellen Konzertplakat behaupten wir vielleicht ein bisschen steil: „2000 Jahre Kirchenmusik“, aber so ist es tatsächlich. Die Kirchenmusik entwickelt sich schon, bevor überhaupt Kirchengebäude gebaut werden. Vorchristliche griechische und jüdische Musiktraditionen bilden die Grundlage für den sogenannten Gregorianischen Gesang. Das sind Melodien, die Papst Gregor im 7. Jahrhundert hat sammeln lassen, weil er sie als würdig genug für den christlichen Gottesdienst erachtete. Diese Melodien wiederum sind der Ausgangspunkt für alle Kompositionen bis zur Trennung von geistlicher und weltlicher Musik, die im Grunde erst im frühen 16. Jahrhundert stattfindet.

Wussten Sie, dass die Erfindung der Mehrstimmigkeit, wie sie uns in der westlichen Kultur so selbstverständlich erscheint, eine Erfindung der Kirchenmusik ist?

TG: Nein. Ehrlich gesagt nicht …

Schmitz: Dafür mussten die Komponisten auch unsere Noten entwickeln, damit sie Musik überhaupt aufschreiben konnten. Kirchenmusik war immer Ausdruck ihrer Zeit und hat musikalische Stile oft entscheidend geprägt. Das gilt für die Renaissance und das Barock genauso wie für die Gesänge der afroamerikanischen Sklaven, ohne die unsere Gospelchöre, aber auch die heutige Popmusik nicht denkbar wären. Mittlerweile ist die kirchenmusikalische Landschaft so bunt und vielfältig wie die heutige Musik insgesamt, und für jeden Geschmack sollte etwas dabei sein: Es gibt Kinder-, Jugend-, Gospel- und Popchöre neben Chören mit klassischem Repertoire; es gibt Bands mit unter-schiedlichsten musikalischen Stilen; es gibt die Posaunenchöre mit ihrer umfassenden Bläserarbeit, die sich von jeher dem Crossover verschrieben hat; und dann gibt es die klassischen Formate wie Streichorchester oder Blockflötenkreise, die aber auch gern mal über den musikalischen Tellerrand hinausschauen.

TG: Was sind für Sie die zurzeit spannendsten kirchenmusikalischen Arbeiten? Wird Kirchenmusik überhaupt noch geschrieben?

Schmitz: Oh ja, natürlich wird Kirchenmusik geschrieben! Denken Sie doch nur an die ganzen Arrangements, die Gospel- oder Popchöre, aber auch die Posaunenchöre benötigen, um überhaupt musizieren zu können. Ihre Frage bezieht sich wohl aber eher auf das, was gemeinhin als klassische Kirchenmusik bezeichnet wird, richtig?

TG: Ja, sie war aber auch bewusst leicht provokant gestellt …

Der Jugendchor als Flashmob in Wittenberg

Schmitz: Zunächst möchte ich unterscheiden zwischen der Musik, die die Gemeinde selbst zu einem Gottesdienst beiträgt, also den Liedern, und der Musik, die vorgetragen wird. Es entstehen immer wieder neue Lieder. Früher hätte man „Choräle“ gesagt, oft angeregt durch Wettbewerbe oder auch die Kirchentage. Manche davon entwickeln sich regelrecht zu Schlagern, die fast jeder kennt. Im Bereich der vorgetragenen Kirchenmusik entstehen ebenfalls immer neue Werke, vom schlichten Chorsatz bis hin zum großen Oratorium. In der Barclaycard-Arena konnte man im Februar das Luther-Oratorium von Dieter Falk erleben, die hannoversche Landeskirche hat in den vergangenen Jahren eine Reihe von CDs mit neu komponierten Kantaten für Chor und Orchester herausgebracht. Die Kompositionen von Karl Jenkins oder Arvo Pärt – beide tief religiös – erfreuen sich großer Beliebtheit, ein Jugendchor unseres Kirchenkreises wird im Rahmen des Kirchentages in Wittenberg einen Flashmob veranstalten. Die Vielfalt ist so groß, dass man leicht den Überblick verliert. Für mich ist die zurzeit spannendste Arbeit die an meine eigenen Stücken…

TG: Muss Kirchenmusik ausschließlich in Kirchen stattfinden oder ist das nicht aus der Mode geraten?

Schmitz: Musik in Kirchen ist stilistisch völlig frei. Es kann bestimmt sehr interessant sein, Werke in einen neuen räumlichen Kontext zu stellen.

Mehrstimmigkeit – eine Erfindung der Kirchenmusik, die Rainer Schmitz in allen Varianten realisiert … (Foto: Trinitas)

 

TG: Es soll vier musikalische Schwerpunkte in der Förderung geben: Cantate Harburg, Concertino Harburg, Flauti vivi Harburg und Heimfelder Posaunenchor. Wo liegen die Unterschiede?

Schmitz: Wir sprechen hier von den musikalischen Gruppen, die in den Gemeinden der Region, also Luther, St Trinitatis, St. Paulus und St. Petrus, musizieren und in Gottesdiensten und Konzerten zu hören sind. Cantate Harburg ist ein großer Chor mit rund 70 Mitgliedern, Concertino Harburg ist ein Streichorchester mit 17 Mitspielerinnen und Mitspielern, und hinter dem Namen Flauti vivi verbirgt sich ein ambitioniertes Blockflötenensemble. Diese drei Gruppen darf ich leiten. Im Heimfelder Posaunenchor spielen alle Sorten von Blechbläsern unter der Leitung von Hartmut Fischer. Alle Sängerinnen und Spieler sind Amateure im Wortsinn, also Liebhaber der Musik, keine Profis.

TG: Ist es eigentlich ein Angebot an alle Musikinteressierten? Und wenn, wie kann ich die Angebote wahrnehmen?

Schmitz: Zu unseren Gottesdiensten und Konzerten ist grundsätzlich jeder eingeladen. Um die Schwelle möglichst niedrig zu halten, erheben wir für die Konzerte keinen Eintritt, sondern sammeln am Ende Spenden ein.

TG: Zum Förderkreis: Was genau unterstütze ich denn als Fördernder?

Schmitz: Der Förderkreis möchte in zwei Richtungen wirken: Einerseits möchte er finanzielle Mittel zur Verfügung stellen, damit die musikalische Arbeit in der Region überhaupt geleistet und vielleicht sogar erweitert werden kann. Vor wenigen Jahren war die finanzielle Situation noch so gut, dass wir regelmäßig größere Werke mit Solisten und durch Profis erweitertem Orchester aufführen konnten, und zwar in einer Bandbreite von Heinrich Schütz bis zu Uraufführungen, also vom 17. bis ins 21. Jahrhundert. Dies kann nun nur noch durch regelmäßige oder einmalige Spenden von Förderern erreicht werden.

Andererseits kann die Förderung auch in Zeitgeschenken und verschiedenen Formen der Unterstützung bestehen, denn der Kontakt zu potenziellen Geldgebern muss erst einmal aufgebaut und dann auch gehalten werden, Konzerte müssen organisiert und durchgeführt werden, Ideen für neue Formate und Projektideen sollen entwickelt und umgesetzt werden.

Das linke Bein der hübschen Sopranistin

TG: Wie viel Geld wird überhaupt gebraucht?

Schmitz: Das ist eine schwierige Frage, nämlich im Grunde die nach der Henne und dem Ei: Um die Aufführung eines größeren Werkes zu planen, brauche ich eine finanzielle Sicherheit. Schließlich müssen professionelle Musiker, die ich dazu benötige, angemessen honoriert werden. Sie leben schließlich davon. Ich kann auch über weitreichende Werbung erst nachdenken, wenn ich dafür Gelder zur Verfügung habe. Dadurch steigt andererseits die Wahrscheinlichkeit höherer Einnahmen und auf deren Grundlage wiederum kann ich interessantere und qualitativ hochwertigere musikalische Angebote machen.

Wir haben vor, Interessierten die Möglichkeit zu geben, konkret einzelne Projekte zu fördern. Sagen wir, für eine Messe von Mozart benötigen wir vier Solisten, sechs Holz- und Blechbläser und einen Paukisten. Die Gesamtkosten mit Werbung und Notenmaterial belaufen sich auf rund 4000 €. Ein Förderer möchte 50 € investieren und kann wählen, ob damit die Plakatwerbung bezahlt werden soll oder das linke Bein der hübschen Sopranistin. Er kann für uns aber auch die ganze Sopranistin kaufen und bezahlt dann 300 €.

TG: Welche vortreffliches Bild … Immerhin ist Ihnen der Humor trotz Geldknappheit erhalten geblieben … Ist die Kulturarbeit auch im Kirchenbereich in den letzten Jahren schwerer geworden? Und wenn worin?

Schmitz: Ja, sehr deutlich. Einerseits hat das mit dem Abbau von hauptamtlichen Kirchenmusikstellen, andererseits mit der finanziellen Ausstattung dieser Stellen zu tun. Ohne sogenannte Drittmittel kann heute kaum noch jemand ausstrahlende Kirchenmusik auf die Bühne oder die Empore bringen. Es erfordert oft viel Phantasie und Arbeitseinsatz, um mit wenig finanziellen Mitteln interessante Programme zu entwickeln. Zudem hat die Kirchenmusik unter dem allgemeinen gesellschaftlichen Bedeutungsverlust von Kirche zu leiden, obwohl gerade sie spirituell Suchende ansprechen und der Kirche kritisch Gegenüberstehende positive Erfahrungen vermitteln kann.

TG: Es wird ein Konzert zur Begründung des Förderkreises am Sonntag, den 19. März um 17 Uhr in der Kirche St. Johannis, Bremer Straße 9, geben. Was steht so alle auf dem Programm?

Schmitz: Wir möchten unser Publikum in die bunte Welt der Kirchenmusik mitnehmen. Cantate Harburg singt eine große Motette von Christian Wolff, einem Stettiner Komponisten der Mozart-Zeit, und Lieder von Felix Mendelssohn Bartholdy. Concertino Harburg begleitet die jungen Violin-Solisten Paula Ebeling (11 Jahre) und Thore Dreidax (13 Jahre) bei einem Konzert von Antonio Vivaldi und spielt Tschaikowsky und alte Schlager. Flauti vivi stellen die Blockflöten von der Sopranino- bis zur Subbassflöte vor und spielen Stücke aus dem 17. Jahrhundert und einen Tango. Der Heimfelder Posaunenchor lässt es mit alten und neuen Stücken richtig krachen. Alle Gruppen zusammen musizieren dann doppel- und dreichörig Werke von Hassler und Pachelbel. Das ganze dauert etwa eine Stunde. Ich selbst werde durch das Programm führen. Und für alle, denen die Kehle trocken geworden ist oder der Magen knurrt, laden wir hinterher zu einem kleinen Empfang mit Wein, Saft und Käse.

TG: Zum Schluss ein persönlicher Tipp an Konzertfreunde?

Schmitz: Schauen Sie regelmäßig in die „Suedkultur“ oder auf die Website von Concertino Harburg, dort werden Sie von uns jetzt öfter lesen können.

website des Kammerorchesters Harburg [1]

Das neue Logo

TG: Noch einige Fragen zu Ihnen persönlich … Wie lange sind Sie in der Kirchenmusik aktiv?

Schmitz: Mit 10 Jahren nahm mich eine Freundin in einen kirchlichen Kinderchor mit, wo meine Liebe zum Singen geweckt wurde. Das Orgelspiel des Kantors faszinierte mich, und ich nahm Unterricht, zunächst privat und dann am Wiesbadener Konservatorium. Mit 16 übernahm ich meine erste Orgelstelle, in deren Rahmen mir dann auch die Leitung des Chores übertragen wurde. Da war ich gerade mal 18. Ein Studium der Kirchenmusik lag nahe, und nach dem Zivildienst, den es damals noch gab, habe ich in Freiburg im Breisgau evangelische Kirchenmusik studiert. 1992 trat ich dann meine erste hauptamtliche Stelle an der Dreifaltigkeitskirche in Harburg an. Durch die Fusion der Gemeinden wurde ich 2006 Kantor an St. Trinitatis, und durch die fortschreitende Regionalisierung bin ich nun auch für die anderen Gemeinden der Region Harburg Innenstadt zuständig. 2007 wurde ich zusätzlich zum Kreiskantor der Propstei Harburg berufen.

„Mir steht Musik aus 1400 Jahren zur Verfügung!“

TG: Was reizt Sie besonders an der Kirchenmusik?

Schmitz: Die Vielfältigkeit und die ungeheure Bandbreite sowohl der musikalischen Stile als auch der Arbeitsfelder! Mir liegt die Arbeit mit Menschen, deshalb dirigiere ich gern Chöre, Orchester oder sonstige Ensembles. Ich spiele Orgel, Klavier, Cembalo und singe. Und für alles steht mir Musik aus mindestens 1400 Jahren zur Verfügung. Ich komponiere. Und wenn ich mit Musik im Allgemeinen und meinen eigenen Stücken im Besonderen Menschen bewegen kann, dann ist das die größte Freude.

TG: Gehen Sie auch in andere Konzerte und wenn in welche?

Schmitz: Natürlich gehe ich auch in andere Konzerte. Abgesehen von denjenigen, die ich von Berufs wegen besuchen muss, gehe ich hauptsächlich in Konzerte mit sogenannter Neuer Musik, also klassischer Avantgarde, oder in die Oper. Und wenn es Freunde gut mit mir meinen, dann nehmen sie mich mal mit in einen Jazzclub.

TG: Welche Komponisten sind für Sie persönlich „der Hammer“?

Schmitz: Chronologisch: Guillaume Dufay, Pierre de la Rue, Georg Philipp Telemann (mit dem ich damals gerne Tee getrunken hätte), Joseph Haydn, Anton Bruckner, Alexander Scriabin, Alban Berg, Dimitri Schostakowitsch.

TG: Vielen Dank für das mehr als aufschlussreiche Gespräch und wir wünschen Ihnehn und alle den Kirchenmusizierenden viele, viele Fördere und Unterstützer!

Das Konzert zur Gründung des Förderkreises findet am 19. März um 17h in der Kirche St. Johannis, in der Bremer Straße 9 statt.

siehe auch sued-kultur.de [2]

Wer schon jetzt Fördermitglied werden möchte, findet hier das Anmeldeformular zum Herunterladen [3].

Zur website von Rainer Schmitz selbst hier klicken: www.rainerschmitz.net [4]

(03. März 2017, das Gespräch führte Heiko Langanke)

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