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Erst wenn die Wände sprechen

Ein bisschen verrückt sein, ist völlig normal. Aber wo sind die Grenzen? Und wer definiert sie eigentlich?

Von Ulrike Hinrichs

Kürzlich wurde mir ein lustiges Video zugeschickt.

„Eine Mitteilung der deutschen Psychiater“: in Zeiten der Corona-bedingten häuslichen Isolation sei es völlig normal mit Blumen, Wänden oder anderen Gegenständen zu sprechen. Der Rat: „Rufen Sie uns erst an, wenn sie Ihnen antworten“.

Wir alle haben unsere Vorstellung davon, was normal ist. Führen Sie auch manchmal Selbstgespräche? Keine Panik, die können sehr hilfreich sein, um Gedanken zu ordnen, sich zu strukturieren oder auch Gefühle bewusst zu machen. Mir Selbstgesprächen können Sie sich besser fokussieren, Rätsel und Probleme lösen oder sich motivieren. Aber Selbstgespräche können auch ein Anzeichen für psychische Erkrankungen sein. „Bestimmte psychische Erkrankungen im Bereich der Psychosen beispielsweise haben als Kernsymptom eine Störung der Denkabläufe“, konstatiert der Psychiater und Psychotherapeut Dirk Wedekind von der Universität Göttingen („wenn Selbstgespräche krankhaft werden“ [1])

Was ist nun eigentlich psychisch problematisch und was nicht? Die Zuordnung von Symptomen in Krankheitsbilder führt zu Diagnosen, die häufig aber nicht immer hilfreich und auch ausgrenzend bzw. stigmatisierend sein können. Die Medizin wie die  Wissenschaft allgemein beruhen auf bestimmten Grundannahmen und Glaubenssätzen, die ebenso von Narrativen geprägt werden, wie jede andere Form menschlicher Kommunikation und Begegnung.  Alle Beschreibungen der Welt sind vom Zeitgeist abhängig und von Perspektiven, die uns vertraut erscheinen. Assmann prägte den Begriff des „kulturellen Gedächtnisses“, der unsere tief verwurzelte und tradierte Weltordnung beschreibt. Dieses kulturelle Feld bezieht sich ebenso auf das Menschenbild wie auf die Weltsicht der Akteure.

Auch die Psychologie und Psychiatrie bewegen sich heute immer noch in einem materialistisch-mechanistischen Weltbild und berufen sich auf wissenschaftlichen Grundannahmen, die von einer bestimmten Krankheitsinterpretation geprägt sind. Jede Zeit hat ihre Modelle sowie daraus abgeleitete Glaubenssätze und Methoden. Sie kommen, wachsen, verändern sich, werden erneuert und verworfen. Unser Weltbild ist im Wandel hin zu einer holistischen (holografischen) Perspektive, die gerade auch im Umgang mit Krankheit interessant sein dürfte. Die holistische Idee bedeutet ganz plakativ zusammengefasst: wie wäre es, wenn unser Wissen nicht im Gehirn gespeichert ist, sondern das Hirn im Wissen (universelle Felder) und wir über ein ganzheitliches Bewusstsein miteinander vernetzt sind? Zahlreiche international bekannte Wissenschaftler haben dazu auch ein Manifest für eine post-materialistische Wissenschaft verfasst, die neue Parameter verlangt, wie etwa der Feststellung, dass der Geist einen eigenständigen Aspekt unserer Realität repräsentiert, der mit der physischen Welt vernetzt ist und diese beeinflussen kann.

Ob das nun so ist oder nicht, vermag ich nicht zu beantworten, auch wenn ich mich mit dem Thema auch in meinem Buch „Kunst als Sprache der Intuition“ intensiv beschäftigt habe. Ich bin offen für solche neuen Perspektiven (siehe auch ´Tiefgang`: „Mit der Kunst die Intuition einfangen“ [2]).  Ich habe jedenfalls in meinem menschheitsgeschichtlich kurzen Leben bereits erlebt, dass wissenschaftliche Theorien, die mir zu Schulzeiten als Wahrheiten verkauft wurden, heute nicht mehr gelten. Ein kleines Beispiel „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr“. Heute wissen wir, dass wir dank der Neuroplastizität des Gehirns bis zum letzten Atemzug lernen können.

Kürzlich las ich in der Zeitschrift „Spektrum Psychologie“  unter dem Titel „Schizophrenie gibt es nicht“ ein Interview mit dem niederländischen Psychiater Jim van Os. Er ist Professor für Psychiatrische Epidemiologie an der Universität Maastricht und Gastprofessor am King´s College London und nennt die Psychiatrie die „Wissenschaft des Nichtwissens“. Denn immer noch konzentriere sich die Forschung in der Psychiatrie auf das physikalisch Messbare, das geistige zähle nicht dazu. Und was genau ist dieser immaterielle Geist? Van Os schlägt vor, den Geist als eine emergente Eigenschaft zu beschreiben, also als etwas, das als komplexes System etwas Größeres ergibt.

Van Os konstatiert am Beispiel der Schizophrenie, dass die Beschreibung  bestimmter Krankheitsbilder so nicht mehr haltbar ist. Der Begriff der Schizophrenie sei verwirrend und medizinisch sogar unbrauchbar. Van Os spricht stattdessen nur noch von einer „Psychoseanfälligkeit“ (Psychose-Spektrum-Syndrom). Für eine patientenzentrierte Psychiatrie beauftragte die belgische Regierung 2016 eine Expertengruppe aus Forschung und Praxis, der auch van Os angehörte. Im Ergebnis kam heraus, dass die herkömmliche Einordnung in psychiatrische Störungsbilder in sehr vielen Fällen unbrauchbar sei (Spektrum Psychologie, 2.2020, S. 49). Eine der wesentlichen Forderungen ist, wie die Betroffenen ihre Symptome wahrnehmen und welchen Sinn sie ihnen zuschreiben.

Aber wenn Ihnen die Wände von einem Arztbesuch abraten, sollten Sie tatsächlich einen konsultieren.

Literatur

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