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Fressen, Ficken, Schlafen

War 2020 einfach nur für die Tonne? Wir haben bei Kulturschaffenden nachgefragt. Heute der Harburger Journalist Niels Kreller.

 Wie hat sich die Pandemie im Arbeitsalltag 2020 bemerkbar gemacht?

Zum einen hat sich natürlich gewandelt, dass es viel weniger Präsenztermine gab als vor der Pandemie. Wir Journalisten haben dadurch viel mehr mit Pressemitteilungen und Telefon gearbeitet als üblich.  Auch inhaltlich hat sich einiges verschoben. So nahm und nimmt die Berichterstattung über die Infektionslage und daraus resultierende Beschränkungen beziehungsweise Lockerungen einen großen Teil ein.

Auch als Fotograf war vieles anders. So sind die ganzen Hochzeiten weggebrochen oder arg im Volumen verkürzt. Ich hatte nur eine einzige in diesem Jahr. Das war vor allem für die Kollegen eine Katastrophe, die sich voll und ganz auf Hochzeiten konzentriert haben. Denen ist nahezu alles weggebrochen. Ich hatte insofern noch Glück, als dass ich mich auf 360-Grad-Panoramaaufnahmen spezialisiert habe. Da ist immer noch einiges möglich.

Wie weit werden die Nachwirkungen nachhallen?

Ich denke, dass zumindest einiges lang und sehr deutlich nachwirken wird. Noch wissen wir ja auch gar nicht, wer am Ende noch da sein wird und wer nicht. Ich denke, dass, wer in der Krise nur seinen gewohnten Gang weitergeschritten ist, nicht überleben wird oder nur knapp. Wer aber – egal ob beruflich oder privat – auch in der Krise etwas Neues angefangen, sich neu ausgerichtet hat oder sich zum Beispiel neu strukturiert hat, der kann zu den Gewinnern zählen.

Was waren 2020 die gravierendsten Entwicklungen?

Das ist in meinen Augen die offene Spaltung der Gesellschaft. Auf der einen Seite die sogenannten Querdenker, die mit einer Mischung aus Rechtsextremen, Esoterikern – die wie sich gezeigt hat nach rechts offen sind -, Verschwörungsideologen – oftmals mit einer gehörigen Portion Antisemitismus gepaart – und Coronaleugnern und -verhamlosern sich rücksichtlos, hasserfüllt und un-, nein: antisolidarisch gezeigt haben. Sie sind bereit, für eine Party im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen zu gehen. In meinen Augen sind sie wissenschaftsfeindlich und rückwärtsgewandt. Nicht zu diesen Leuten gehören im Übrigen diejenigen, die sich angesichts der unbestrittenen Einschränkung von Grundrechten ernsthafte Sorgen um die Demokratie machen – aber eben die Gefährlichkeit des Virus und die Notwendigkeit der Eindämmung nicht in Abrede stellen.

Anstrengend ist aber ehrlich gesagt auch das andere Extrem. Diejenigen, die den ganzen Tag kaum noch etwas anderes von sich geben als Zahlen und Diagramme mit neuen Infektionszahlen, Corona-Toten, Inzidenzwerten und denen keine Maßnahme hart genug sein kann. Auch das kann nicht die Lösung sein.

Die gravierendste Entwicklung ist deshalb in meinen Augen, dass nunmehr offenliegt, dass die Aufklärung noch lange nicht vollendet ist.

Was hat 2020 an neuer Kreativität hervorgebracht?

Besonders beeindruckt bin ich vom ganzen Event- und Musikbereich. Dort haben sich viele Menschen Möglichkeiten überlegt, wie man trotz geschlossener Clubs, Theatern, Museen und ausgefallenen Open Airs Kunst, Kultur und Musik zu den Menschen bringen kann. Und das ist gerade in einer Krise, wo die Menschen Angst haben und verunsichert sind, eine immens wichtige Sache. Denn der Mensch besteht eben nicht aus – wenn ich das mal so direkt sagen darf – Fressen, Ficken und Schlafen, sondern ist ein kulturelles und soziales Wesen. Und dieser Teil, der ihn in meinen Augen erst zum Menschen macht, wurde ihm in der Krise weitgehend genommen.

Deshalb finde ich die Online-Aktionen und Live Streams nicht nur schön, sondern notwendig, damit die Menschen weiter Kultur haben. Und natürlich, damit Musiker, Clubbetreiber und Eventleute wenigstens ein bisschen Einkommen haben. Darüber hinaus finde ich die gegenseitigen Unterstützungsaktionen toll. Wie CD-Sampler, deren Erlös für die Clubs ist Ähnliches.

Was war das persönlich einschneidendste Erlebnis in 2020?

Meine Freunde und vor allem meine Familie so lange nicht oder nur sehr eingeschränkt treffen zu können.

Was ist für 2021 absehbar?

Ich denke, dass wir das ganze Jahr hindurch und darüber hinaus die Auswirkungen spüren werden. Ich rechne damit, dass der jetzige Lockdown mindestens bis in den März hinein verlängert wird. Deutliche Lockerungen wird es erst dann geben, wenn alle die Möglichkeit hatten, sich impfen zu lassen. Ich betone: Die Möglichkeit. Ich finde nicht, dass die Beschränkungen bestehen bleiben sollten, nur weil sich einige dem Impfen verweigern. Unsere Demokratie erlaubt natürlich, dumm zu handeln. Sie fordert aber nicht, darauf Rücksicht zu nehmen.

Die wirtschaftlichen Folgen einzuschätzen finde ich sehr schwierig, denn wir haben ja noch eine Insolvenzsperre. Was wird, wenn die aufgehoben wird, möchte ich mir gar nicht ausmalen.

Was wäre in 2021 wünschenswert?

Weniger rücksichtloser Egoismus und mehr Solidarität, damit wir auch die (hoffentlich) letzte Etappe bis alle, die wollen, geimpft sind, mit so wenig wie möglich Toten überstehen.

Was wird von 2020 bleiben?

Die Wertschätzung der Regionalität. Das bedeutet zum einen, dass glaube ich viele gemerkt haben, dass sich ein schöner Urlaub nicht unbedingt durch möglichst viele geflogene Kilometer auszeichnet. Sondern es auch hier – direkt vor der Haustür oder aber in einer Gegend im eigenen Land – viel Tolles zu erleben gibt.

Genauso im Kulturbereich. Es muss nicht unbedingt der Louvre in Paris, der Tower in London oder die Freiheitsstatue in New York sein. Auch nicht der Mega-Star oder das große internationale Festival. Ich denke, dass die Local Heroes und lokalen Festivals mehr an Bedeutung gewonnen haben und gewinnen werden.

 Niels Kreller

https://www.besser-im-blick.de/ [1]

 

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