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Idee des gelebten Grundgesetzes

Das Grundgesetz der Bundesrepublik feiert sein 70jähriges und steht inhaltlich unter Beschuss. Und doch: eine Demokratiemesse zeigt auch, welche Impulse nach wie vor von ihm ausgehen. Auch in Harburg.

Von Sonja Alphonso

Grundlegende Wertschätzung

Der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung meint: Demokratie ist Arbeit!

Sie ist kein Selbstgänger und auch nicht statisch, sondern ein dynamischer Lernprozess. Es bedarf eines Verständnisses politischer Prozesse und einer Festigung im Bewusstsein. Demokratie lebe von Kontroversen und Aushandlungen, von Vielfalt und Teilhabe.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist Schirmherr der Initiative

„Demokratie ganz nah – Ideen für ein gelebtes Grundgesetz“

Je komplexer die Herausforderungen der heutigen Zeit, desto wichtiger wird ein Bekenntnis zu den Grundpfeilern der Demokratie. Dazu gehört das Grundgesetz, das den rechtlichen Rahmen setzt. Die darin festgeschriebenen Grundwerte sollen Richtschnur sein für ein gerechtes und friedliches gesellschaftliches Miteinander. Demokratieverdrossenheit und Polarisierungen gefährden die Errungenschaften unserer Freiheit. Die Zielgruppen, die politische Bildung erreichen muss, haben sich stark verifiziert. Besonderer Handlungsbedarf zeigt sich in wachsenden kulturellen, religiösen und sozialen Spannungsfeldern.

Es geht darum, dorthin zu gehen, wo die Menschen sich in ihrem Alltag aufhalten

Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung: „Hierzu trägt politische Bildung bei, wenn sie Menschen in ihrer Lebenswelt aufsucht, sei es der Nachbarschaft, dem Kiez oder Veddel, der Gemeinde, dem Verein. Um möglichst viele Menschen erreichen zu können, muss sich die politische Bildung hinausbewegen und neue Aktionsräume erschließen. Dies gilt für Menschen in strukturschwachen Regionen ebenso wie für Menschen in sogenannten abgehängten Stadtteilen, für reale Umgebungen ebenso wie für die virtuellen Weiten im Netz. Dies bedeutet auch, dass Arenen für politische Aushandlungsprozesse erzeugt werden müssen, in denen Menschen sich mit ihren Positionen einbringen und auch im Ringen um Deutungshoheiten und Lösungswege durchsetzen können. Dies setzt Anerkennung und Umsetzung des gleichberechtigten Zugangs zu politischen und gesellschaftlichen Strukturen voraus und darf nicht auf der Ebene des Anhörens verbleiben, sondern muss Menschen als Akteure und politische, handlungsfähige Subjekte betrachten. In diesem Kontext eröffnet politische Bildung mit Menschen vor Ort Perspektiven für Zugang, Beteiligung und Gestaltung von Gesellschaft.“

In einer Broschüre (kostenfrei zum download hier [1]) werden 16 unterschiedliche Ansätze vorgestellt. Von der Idee zur Verwirklichung, von Hamburg bis Bayern. Jedes Bundesland hat etwas erarbeitet und einen Beitrag geleistet, um Demokratie erfahrbar zu machen.

#VielfältigeNachbarschaft lautete das Motto in Hamburg, und Ulrike Hinrichs setzte mit ihrem Kunst-Projekt „Gemalte Freiheit“ in Harburg ein Zeichen.

Kunst schafft Begegnung und respektiert Vielfalt

 Alle Harburger*innen waren aufgerufen, sich an der Auseinandersetzung mit dem Grundgesetz zu beteiligen.

Zur Einstimmung ging Ulrike Hinrichs die einzelnen Artikel durch. Denn wir leben schon so lange mit diesen Errungenschaften, dass wir kaum noch sagen können, auf welchen Säulen unsere Demokratie beruht.

„Für mich war es schon erstaunlich, dass die geflüchteten Projektteilnehmer die Grundrechte durch die Integrationskurse besser kannten, als die hier aufgewachsenen Menschen“, bestätigt Ulrike Hinrichs.

Die Anwältin, Mediatorin und Kunsttherapeutin wollte in ihrem Projekt Menschen unterschiedlicher Generationen, Herkunft und Milieus zusammenbringen und über den künstlerischen Ausdruck zum Diskurs aufrufen; was ihr auch gelang. An den Workshops nahmen ca. 30 Personen teil: Geflüchtete, Rentner*innen, Student*innen, Berufstätige, Erwerbslose, psychisch Erkrankte, Profi-Künstler*innen und künstlerische Laien.

Begegnung schaffe Brücken, und Kunst sei dabei das Verbindungsstück in der Begegnung, weiß Ulrike Hinrichs aus Erfahrung zu berichten, die sie bereits in anderen Projekten machte: dass man über die Kunst leicht zueinander findet und Kontakt- und Sprachbarrieren überwindet. „Ich fand es sehr spannend, dass bei den Workshops die Teilnehmer*innen sofort in eine Diskussion kamen. Die eine Künstlerin beispielsweise brachte in der Diskussion zum Ausdruck, dass sie sich mehr Sicherheit wünsche, die andere fühlte sich dagegen in ihrer Freiheit begrenzt durch immer mehr Gesetze. Und ja, das ist ja genau das Spannungsverhältnis, in dem der Staat sich gegenüber seinen Bürgern bewegt. Hier muss der Staat einen Ausgleich schaffen. Die Grundrechte geben den Rahmen vor.“

Überwachung – Sonja AlphonsoEs entstand eine breite Mischung an Kunstwerken – von Live-Performance über Skulpturen, Gemälde und Collagen bis zu Fotografie und Musik.

Es entstand eine breite Mischung an Kunstwerken – von Live-Performance über Skulpturen, Gemälde und Collage bis zu Fotografie und Musik.

Ich war eine der Teilnehmer*innen, die sich zu einem Werk inspirieren ließ. Wer mag, kann nachlesen, was ich mir dabei dachte: see-me.online [2]

Zum einen war ich hellauf begeistert von dem Input und der Leidenschaft, mit der Ulrike Hinrichs für das Thema warb. Zum anderen fand ich den Austausch sehr anregend. Da waren so viele tolle Ideen, die umgesetzt wurden!

Ich bedauere nur, dass ich bei der Präsentation am 23. September nicht dabei sein konnte. Aberhier findet sich die  Pressemeldung dazu: tiefgang.net [3]

Eigentlich sollten die Werke auf der Demokratiemesse der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg von Mittwoch, 19. Juni bis Donnerstag, 20. Juni 2019 (Haus der Patriotischen Gesellschaft, Trostbrücke 4-6, 20457 Hamburg) nochmals zu sehen sein mit dem Ziel, mit den Besuchern über die Kunstwerke in einen Dialog zu kommen.

Doch nun kommt es anders. Die Politik darf sich auf die Schulter klopfen, wenn engagierte Menschen wie Ulrike Hinrichs kurzfristig das Handtuch werfen, weil die Ignoranz im Umgang mit Kulturschaffenden zumindest vor Ort schier unerträglich ist. „Wir müssen leider draußen bleiben“, könnte man untertiteln oder „keine Zeit für Wertschätzung“.

Auf eigenen Wunsch von Ulrike Hinrichs verzichtete ich auf eine Anmerkung in dem geplanten Artikel, quasi als Fußnote, dass sie mehrmals vertröstet wurde, als sie nachfragte, wie der Stand der Dinge sei bei einer geplanten Ausstellung im Rathaus, von der einmal die Rede gewesen war. Sie wurde mehrmals vertröstet, dann hieß es, dafür sei es „jetzt zu spät“.

Und dann das: Harbuger Vogel(ab)schießen. [4]

„Demokratie ganz nah“ hat sich weit entfernt selbst gefeiert. Ob das im Sinne des Erfinders war?

Die Enttäuschung kommt einer Verdrossenheit gefährlich nahe, wenn sich die Falschen mit Federn schmücken und augenscheinlich im richtigen Moment auf der politischen Bühne erscheinen, um sich für die Presse in Pose werfen, und jene übergehen, die sich stark gemacht haben – Menschen, die Projekte tragen von der Idee bis zur Umsetzung.

Dank des Kunstprojektes von Ulrike Hinrichs hatte ich persönlich mehr Achtung vor unserem Grundgesetz; Dank des ignoranten Umgangs mit den „basischen“ Machern und Macherinnen werde ich sauer und mein Vertrauen in Politiker sinkt, die sich Kultur auf die Fahne schreiben. Es tut mir ehrlich leid, Zeugin zu werden von Frust – und das nicht nur dieses Mal.

Mir kommt bei diesem Thema ein Bild in den Kopf: Don Quijote. Harburg sind mal wieder Windmühlenflügel gewachsen….

Weitere Infos mit Kunstwerken und Informationen unter www.grundrechtekreativ.de [5]

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