Spiritueller Narzissmus

Ulrike Hinrichs - Der glückliche Mönch

Spirituelle Praktiken, die unsere Achtsamkeit trainieren, führen nach innen, nicht nach außen. Unserem Ego ist allerdings nichts heilig. Auch Yoga und Mediation können zum Ego-Booster missbraucht werden.

von Ulrike Hinrichs

Erst kürzlich begegnete mir in den sozialen Medien ein Foto einer wunderschönen Frau, die auf einem Bootssteg mit Blick auf das weite Meer meditierte. Die Perfektion dieses Bildes hatte es in sich. Perfekte Meditationshaltung. Perfekte Körper. Perfekter Himmel, Perfektes Meer. Ich erinnerte mich beim Betrachten des Bildes an eine Beitrag „Spiritualität auf Abwegen“, den ich kürzlich im Magazin Spektrum Psychologie gelesen hatte (von Scott Barry Kaufmann, Heft 01.22). In den vergangenen Jahren habe die Forschung das Phänomen des spirituellen Narzissmus und der spirituellen Selbstaufwertung entdeckt. „Die Selbstaufwertung mit Hilfe spiritueller Praktiken kann uns glauben machen, wir würden als Menschen wachsen, während eigentlich nur unser Ego wächst“, so Kaufmann in dem Beitrag (a.a.O., S. 50).

Unsere Gesellschaft setzt auf Leistung, Schönheit und Erfolg. Scheitern ist untersagt. Nichtstun ist unerwünscht. Damit verbunden ist auch ein kollektiver Perfektionismus. Wir leben in einer „narzisstisch geprägten Welt des Alles-Machbaren und Besser-Seins“, beschreibt es Bärbel Wardetzki in ihrem Buch Weiblicher Narzissmus (S. 13). Selbstoptimierung und Leistungsorientierung dominieren unseren Alltag. Auch die spirituelle Szene ist nicht immun dagegen. Wir sind die besseren, wir sind erleuchtet!

Die kollektive Taubheit schwebt wie eine dunkle Wolke über uns. Unsere zerstörerische Geschichte des Nationalsozialismus hat den Samen der Gefühllosigkeit gesät. Individuelle Traumata stärken die innere Spaltung. Um in einem toxischen System zu überleben, dissoziieren sich Menschen von ihren Gefühlen. Sie werden innerlich taub. Diese Gefühl- und Sprachlosigkeit der Eltern und Großeltern haben viele Nachkriegskinder zu spüren bekommen. Sie wurden materiell versorgt. Eine emotionale und empathische Fürsorge blieb aber aus. Dissoziation ist ein Bewältigungsmechanismus der Psyche, um traumatische Erlebnisse, unlösbare oder unerträgliche Konflikte aufzuhalten.

Dissoziation ist das Gegenteil von Achtsamkeit. Spirituelle Praktiken setzen auf Achtsamkeit. Es geht darum, über das Ego hinauszuwachsen, auch die eigenen dunklen Seiten kennenzulernen, Mitgefühl und Wertschätzung zu schenken. Es geht um wahrnehmen, was   passiert, ohne es zu bewerten.

Es spricht nichts dagegen, dass spirituelle Praktiken das Selbstwertgefühl steigern. Schwierig wird es aber, wenn diese Praktiken dafür eingesetzt werden, um einen hohen Selbstwert zu erreichen.

Ulrike Hinrichs, Heilpraktikerin für Psychotherapie und Kunsttherapeutin

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