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Kunst als Erfahrung der Wirklichkeit

Kunst kann unsere Sinne verführen, Impulse geben und ebenso verstören. Was ist für uns Kunst, was ist schön, hässlich? Und warum erschafft der Mensch überhaupt Kunst?

Von Ulrike Hinrichs

Zurück bis zu den Ursprüngen der Menschheit und bis in die entlegensten Ecken der Erde können wir künstlerische Werke finden. Kunst scheint etwas zutiefst Menschliches zu sein. Alles hat einen natürlichen Sinn, nichts passiert in der lebendigen Natur einfach nur so. Die Kunst ist eine Form einer Sprache der intuitiven, ahnenden und fühlenden Seite in uns (´Tiefgang`: Mit der Kunst die Intuition einfangen [1]). Die Kunst ist Ausdruck, der Eindruck hinterlässt. Dabei geht es nicht um die Ästhetik, wie wir sie herkömmlich verstehen, denn sie  bleibt auf der Oberfläche verhaftet. Der Biologe und Dozent an der Universität der Künste in Berlin Andreas Weber hat zu dem Thema Schönheit und Ästhetik in einem Interview überzeugende Gedanken formuliert: „In der Erfahrung von Schönheit oder einer ästhetischen Erfahrung machen wir eine Erfahrung der Wirklichkeit. Wir stellen fest, diese Wirklichkeit ist auf eine bestimmte Art und Weise beschaffen und ich sollte an dieser Wirklichkeit lebensspendend teilnehmen. Ich spreche allerdings nicht mehr von ästhetischen Erfahrungen, weil sie sich auf geformte Oberflächen beziehen. Die Begegnung in einer Welt in ihrer Innerlichkeit oder Beziehung ist eben keine Oberflächenerfahrung. Das sagt uns etwas darüber, wie die Welt beschaffen ist und wie gut sie beschaffen wäre. Auf der Ebene von Beziehung, Kommunikation und Innerlichkeit würde ich sagen, das Schöne ist das Fruchtbare und das Hässliche ist das Unfruchtbare. Oder das Schöne ist das, was Fruchtbarkeit ermöglicht. Und das Hässliche ist das, was mit Unfruchtbarkeit droht. Das ist aber keine bürgerliche Couchästhetik des Schönen und Hässlichen.“

Unter Fruchtbarkeit ist – so Weber – sehr allgemein das Schöpferische und Lebendige zu verstehen. Das Ästhetische ist keine Oberflächenbetrachtung, sondern trifft uns im Inneren. Wir tauchen von der Außenansicht in die Tiefe, gehen in Resonanz mit dem Lebendigen um uns herum, in der Natur und auch im Kunstwerk. Ästhetik ist damit eine emotionale Kontaktaufnahme, eine Form der Resonanz, ein „Mitschwingen“ mit dem Kunstwerk.

„Emotionale Resonanz als eine bestimmte Form zwischenmenschlicher Interaktion ist eine basale Erfahrung jeder zwischenmenschlichen Beziehung. Sie meint eine ganzheitliche Form des Aufeinander-bezogen-Seins und bezieht als prä- bzw. extraverbales Beziehungsgeschehen die seelische, körperliche und geistige Ebene gleichermaßen mit ein. Emotionale Resonanz ist in einem weiteren Kontext ein „transverbales“ Phänomen, in dem letztlich das Geheimnis des Angerührt-Werdens zum Ausdruck kommt. Emotionale Resonanz lässt in uns etwas anklingen und berührt uns.“, konstatiert die Musiktherapeutin Gindel.

Gindel beschreibt die Resonanz im zwischenmenschlichen Zusammensein, diese Idee lässt sich auf unsere Beziehung zur Welt um uns herum übertragen.

Die Beschreibung einer resonanten Ästhetik stellt eine erfrischende Perspektive dar. In meiner täglichen Arbeit mit unterschiedlichen Gruppen staune ich immer wieder, wie sich das Lebendige in der Kunst manifestiert. Kreative Prozesse wecken und manifestieren Leben und Schöpferkraft. Wenn wir künstlich tätig sind, erschaffen wir die Welt ganz neu. Gleichzeitig sind die meisten Menschen im Laufe ihres Lebens durch einen gesellschaftlichen Bewertungsprozess in ihrer Kreativität abgetötet worden. Menschen verzweifeln an den verinnerlichten Bewertungskriterien. Wenn wir es schaffen, uns von Bewertungen zu befreien, die wie eintätowierte Glaubenssätze in uns wüten, können wir wieder spielen, staunen und vor allem schöpfen.

Betrachten wir die Blumengesichter im Header-Bild. Sie stammen von einer älteren Dame aus Afghanistan, die an meiner Flüchtlingskunstgruppe teilnimmt. Soweit diese Frau überhaupt schon einmal gemalt hat, dann zuletzt als Kind. Mich berühren ihre Blumen zutiefst. Sie wecken in mir ein Gefühl von „Familie und Hoffnung“ und auch ein wenig „Skepsis und Verlorenheit“. Das sind meine Resonanzen. Wenn sie das Werk betrachten, können Sie ganz andere Assoziationen haben. Was uns in Kunstwerken berührt, hat zunächst einmal mit uns selbst zu tun. Oft decken sich diese Impulse und Assoziationen aber mit den Gefühlen und Themen der Schöpfer der Werke. Das schnelle, intuitive  Denken, wie es der Nobelpreisträger Kahnemann beschreibt, breitet sich durch Assoziationsketten aus (siehe ausführlich: ´Tiefgang`: „Kunst ist wildes Denken“ [2]). Unser Unbewusstes kann mühelos unendliche Assoziationen hervorrufen. Auf diese Weise verbinden sich über das Kunstwerk Schöpfer und Betrachtende. Das Werk  beginnt zu sprechen.

Literatur

 

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