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Neurodiversität – nichts für die Ohren

Viele Menschen mit neurobiologischen Besonderheiten fragen sich, wie sie eine Gebrauchsanweisung für sich selbst finden können. Ihnen ist alles zu viel, zu laut, zu turbulent. Insbesondere in einem neurotypischen Umfeld stoßen sie an ihre Grenzen.

Von Ulrike Hinrichs

Wir sind Menschen. Wir sind unterschiedlich. So weit, so gut. Doch erst in jüngster Zeit geraten neurospezifische Besonderheiten von Menschen zunehmend in den Blick.

„Neurodiversität („neurologische Diversität“) bezeichnet – gemäß dem 2011 an der Syracuse University [1] (New York) gehaltenen National Symposium on Neurodiversity – ein Konzept, in dem neurobiologische [2] Unterschiede als eine menschliche Disposition unter anderen angesehen und respektiert werden; atypische neurologische [3] Entwicklungen werden als natürliche menschliche Unterschiede eingeordnet. Nachdem das Konzept Menschen jedweden neurologischen Status umfasst, sind alle Menschen als neurodivers zu betrachten, der Begriff Neuro-Minderheit („neurominority“) verweist auf Menschen, die als Minderheit nicht neurotypisch [4] sind.“ ( Quelle wikipedia [5])

Die neurobiologischen Eigenarten sind vielfältig. Hochsensibilität, ADHS auch im Erwachsenenalter, traumabedingte Sensibilität, aber auch Autismus oder Dyskalkulie können dazugehören.

„Die normalverteilte Neurosensitivität könnte von Psychopathie bis Höchstsensitivität reichen. In diesem Kontext liegt in der Neurodiversitätsperspektive sowohl für Organisationen als auch für neuroatypische Individuen eine große Chance“, beschreibt es Dr. Patrice Wyrsch. [6])

Das Konzert der Neurodiversität ist nicht unumstritten, da Störungsbilder wie Autismus oder ADHS hier nicht als Krankheiten, sondern als Ausdruck der menschlichen Diversität bewertet werden. Unabhängig von der Einordnung als Krankheit oder menschlicher Besonderheit erleben neuroatypische Menschen ihre Andersartigkeit als eine große Bürde. Sinnesreize werden besonders intensiv wahrgenommen. Helle Lichter, starke Gerüche, zu viel Lärm  überfluten sie. Gleichzeitig spüren sie die Erwartung im Außen, sich an die so genannte Normalität anzupassen. Eine neue Studie belegt, dass das Depressionsrisiko steigt, je stärker man versucht sich dem Außen anzupassen (Gehirn & Geist Dossier, Autismus verstehen (1/2021, S. 23) Artikel: „“Ich bin nicht falsch, ich bin nur anders“).

Etwa Menschen mit Diagnose ADHS, insbesondere Kinder, haben es schwer, sich in ein geregeltes System einzufügen. Ihnen fällt es schwer ihre Aufmerksamkeit zu fokussieren. Der Arzt Dr. Martin Winker, selbst Betroffener, beschreibt die hohe Sensibilität gepaart mit einer hohen Reizbarkeit bei einem Menschen mit ADHS metaphorisch als „Mimose mit Morgenstern“ (ADHS bei Kindern und Jugendlichen [7]).

Hochsensibilität als mögliche neurobiologische Eigenart ist kein Störungsbild im Klassifikationssystem der ICD 10. Die Existenz einer besonderen Reizsensibilität wird von vielen Wissenschaftlern angezweifelt (zu den Besonderheiten von Hochsensiblen: Wenn nicht nur der Pulli kratzt“  [8]

Neben zahlreichen Einschränkungen steckt in den Eigenarten ein großes Potential.  Autisten beispielweisen sähen eher die Bäume als den Wald, so die Psychologin Uta Frith und Francesca Happé. Sie können sich extrem gut auf Details fokussieren. Dieser klare Fokus mache einige Autisten zu begabten Forschern, so der Neurowissenschaftler Laurent Mottron (in Gehirn & Geist Dossier, Autismus verstehen (1/2021, S. 16) Artikel: „Des einen Störung, des anderen Talent“).

Menschen mit ADHS zeigen ein hohes Maß an Kreativität und Neugier. Sie sind besonders gut darin, innovative Konzepte zu entwickeln und neue Lösungen zu finden.  Sie verlieren sich nicht in Details, behalten den Überblick für das größere Ganze.

Als Kunsttherapeutin und HSP-Betroffene interessiert mich besonders der künstlerische Ausdruck zur Stärkung dieser besonderen Fähigkeiten. Das bildhafte Übersetzen durch Kunst ist eine Form einer universellen Sprache. Der Nobelpreisträger Daniel Kahnemann, der zwei Grundformen des Denkens unterscheidet, beschreibt das schnelle assoziative Denken im Gegensatz zum langsamen rationalen Denken. Die Ethnologin Dr. Kessler spricht vom wilden Denken, das eine fluide, kreative, luzide Intelligenz hervorbringt. In diesem Sinne ist Kunst eine Ausdrucksform dieses schnellen wilden Denkens.

Um das wilde Denken zu erwecken, wechseln wir von der analytischen Sprache unseres Verstandes (linke Hirnhälfte) auf die Bildsprache unserer fühlenden Seite (rechte Hirnhälfte). Unsere bildhafte Sprache liebt Mythen, Märchen und Geschichten, Kunst und Musik, eben alles was wir fühlen können. Sprachbilder öffnen neue Perspektiven und Welten im Kopf.

Diese Fähigkeit des wilden assoziativen Denkens ist eine besondere Stärke insbesondere von Hochsensiblen und Menschen mit ADHS. Daher können wir im Kontext Neurodiversität diese Ressourcen durch kreative Impulse wecken, stärken und dadurch Resilienz fördern.

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