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Wenn Sehnsucht wehtut

Wir kennen alle das bittersüße Gefühl von Sehnsucht. Sehnsucht nach einem Menschen, nach einer anderen Zeit, nach anderen Zuständen, nach der Heimat. Sehnsucht kann gesund sein, aber auch toxisch wirken.

 von Ulrike Hinrichs

Sehnsucht

Sie saugt mich aus, verschlingt mich, speit mich aus.

Die Lunge reißt, das Herz zerbricht.

Ich strampele, tauche ein.

Ich sinke, ich ertrinke.

Sie dehnt sich aus, weit wie der Ozean.

Es zieht mich so.

Ich flehe. Bitte!

Sie hört mich nicht.

Ich sehe nichts.

Sehnsucht.

Sie stoppt die Zeit.

Sie leert den Raum

Ich falle.

Ich ertrinke.

Der blaue Himmel tropft aufs Meer.

Die Gischt schlägt an die Klippen.

Ich falle, falle, falle.

Sehnsucht.

Ulrike Hinrichs

 

Die gesunde bzw. nährende Sehnsucht strebt nach Entfaltung und Wachstum. Dazu gehören schwelgende Erinnerungen und Tagträume. Diese Form der Sehnsucht ist wichtig, denn sie zeigt uns, was für uns im Leben von Bedeutung ist. Sie ist ein Wegweiser in die richtige Richtung.

Die verzehrende, regressive Sehnsucht dagegen entspringt dem kindlichen Wunsch nach Symbiose. Die verzehrende Sehnsucht kann nie erfüllt werden. „Es ist ein schwarze Loch in das du hineinfällst“, beschrieb es eine Klientin.

Es ist die kindliche Sehnsucht nach Verschmelzung. „Die regressiven, verzehrenden Sehnsüchte sind mit starken, beißenden Gefühlen verbunden, einem intensiven Sog in Richtung des ersehnten Menschen und qualvoller Traurigkeit, nicht bei ihm zu sein. Es ist, als zehre diese Form der Sehnsucht die Frau auf, statt, wie bei der nährenden Sehnsucht, sie zu beflügeln und für ihre Suche nach Liebe zu stärken“, so Bärbel Wardetzki in ihrem Buch „weiblicher Narzissmus (S. 236).

Kinder, die mit emotionalem Missbrauch, Gewalt oder Vernachlässigung aufgewachsen sind, haben das Gefühl von Liebe und Urvertrauen nicht erfahren. Emotionale Abwendung und Liebesentzug sind für Kinder lebensbedrohlich, denn sie sind von den Eltern abhängig.

Die kindliche Sehnsucht wirkt auch im Erwachsenenalter nach. Diese Wunde bleibt ein Leben lang. Die innere Leere kann nicht gestopft werden. Der Sog gleicht einem universellen Staubsauger. Es ist die Sehnsucht nach Ganzheit. Beziehungen werden dadurch zur Tortur. Wenn der Liebespartner Autonomie leben will, wird es für Betroffene bedrohlich. Die innere Leere wird nur scheinbar durch eine Beziehung überwunden. Die Trennung vom Partner fühlt sich wie ein Zerbrechen der eigenen Identität an.

Oft hilft es Betroffenen, diese Dynamik erst einmal zu verstehen. Denn sie spüren, dass etwas nicht stimmt, dass der Sog zu groß, zu überwältigend ist.

„Die Psychoanalyse hat das Graben in der Tiefe übertrieben. Im Fluss des Lebens fließt alles mehr oder weniger weit oben. Die allertiefste Tiefe ist eine Illusion“ beschreibt es der indischer Psychoanalytiker Sudhir Kakar (in: Jochen Peichl. Narzisstische Verletzungen der Seele heilen, S. 7)

Es geht um die Heilung der kindlichen Wunde. Verlassenheitsgefühle, Lieblosigkeit, Todesangst müssen überwunden werden. Wir heilen, wenn die Dinge sein dürfen. Dazu gehört, dass wir den alten Schmerz bewertungslos spüren und ein Gegenüber, das da ist, zuhört. Ein Hören mit den Ohren Gottes.

Siehe zum toxischen Familienumfeld:

 

Ulrike Hinrichs ist Kunsttherapeutin (M.A.) und Heilpraktikerin für Psychotherapie. Sie ist auch Autorin des Fachbuches Kunst als Sprache der Intuition [9]

 

 

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