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Die Aufarbeitung deutscher Kolonialgeschichte

Die erste Kulturministerkonferenz verabschiedete ein 13 Eckpunkte umfassendes Grundlagenpapier. Hier im Wortlaut:

Erste Eckpunkte  zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten der Staatsministerin des Bundes für Kultur und Medien, der Staatsministerin im Auswärtigen Amt für internationale Kulturpolitik, der Kulturministerinnen und Kulturminister der Länder und der kommunalen Spitzenverbände

Präambel 

Wir, die Staatsministerin des Bundes für Kultur und Medien, die Staatsministerin im Auswärtigen Amt für internationale Kulturpolitik, die Kulturministerinnen und Kulturminister der Länder und die kommunalen Spitzenverbände, stellen uns der historischen Verantwortung im Zusammenhang mit dem deutschen Kolonialismus und der Verantwortung, die sich aus von kolonialem Denken geprägten Handlungen ergeben hat. Das während der Zeit des Kolonialismus geschehene Unrecht und seine zum Teil bis heute nachwirkenden Folgen dürfen nicht vergessen werden.

Die Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte als Teil unserer gemeinsamen gesellschaftlichen Erinnerungskultur gehört zum demokratischen Grundkonsens in Deutschland und ist über die Politik hinaus eine Aufgabe für alle Bereiche der Gesellschaft, auch für Kultur, Bildung, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Dies stellt uns vor große historische, ethische und politische Herausforderungen. Der aufrichtige, glaubwürdige und sensible Umgang hiermit ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Sie soll getragen sein von partnerschaftlichem Dialog, Verständigung und Versöhnung mit den vom Kolonialismus betroffenen Gesellschaften.

Nach unserem Verständnis sollten alle Menschen die Möglichkeit haben, in ihren Herkunftsstaaten und Herkunftsgesellschaften ihrem reichen materiellen Kulturerbe zu begegnen, sich damit auseinanderzusetzen und es an zukünftige Generationen weiterzugeben. Deutschland erkennt die Bedeutung von Kulturgütern für die kulturelle Identität der Herkunftsstaaten und den betroffenen Zivilgesellschaften an und hat unter anderem deshalb 2007 das UNESCO-Übereinkommen zum Kulturgutschutz von 1970 ratifiziert und umgesetzt.

Wir wollen in engem Austausch mit den Herkunftsstaaten und den betroffenen  Herkunftsgesellschaften verantwortungsvoll mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten umgehen. Wir wollen dabei die Voraussetzungen für Rückführungen von menschlichen Überresten schaffen und für Rückführungen von Kulturgütern aus kolonialen Kontexten, deren Aneignung in rechtlich und/oder ethisch heute nicht mehr vertretbarer Weise erfolgte. Wir werden gemeinsam mit den betroffenen Einrichtungen Rückführungsverfahren mit der erforderlichen Dringlichkeit und Sensibilität behandeln.

Das Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten stammt nicht nur aus ehemaligen deutschen Kolonialgebieten, sondern auch aus anderen Teilen der Welt. Durch gewaltsame Aneignung von Kulturgütern im Zuge des europäischen Kolonialismus wurde vielen betroffenen Gesellschaften Kulturgüter geraubt, die für ihre Geschichte und ihre kulturelle Identität prägend sind. Kulturgüter vergegenwärtigen Zusammenhänge, die für das kulturelle Selbstverständnis der Gesellschaft, aus der sie stammen, von fundamentaler Bedeutung sind.

Wir erkennen die Notwendigkeit an, das Bewusstsein für und das Wissen um die Kolonialgeschichte und ihre Auswirkungen bis in die Gegenwart zu schärfen und zu vermehren. Eine wichtige Rolle nehmen dabei all jene Einrichtungen ein, die Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten bewahren.

Die Staatsministerin des Bundes für Kultur und Medien, die Staatsministerin im Auswärtigen Amt für internationale Kulturpolitik, die Kulturministerinnen und Kulturminister der Länder und die kommunalen Spitzenverbände verstehen die Aufarbeitung von Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten als einen klar von der Aufarbeitung NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturguts zu trennenden Sachverhalt. Sie wird nicht zu einer Reduzierung der Bemühungen und Maßnahmen zur Aufarbeitung des NS-Unrechts führen. Der Holocaust ist präzedenzlos und unvergleichbar.

Wir stehen für Dialog und Transparenz. Den Einbezug von Menschen aus Herkunftsstaaten und den Herkunftsgesellschaften ehemals kolonisierter Gebiete sehen wir als Voraussetzung an, um überkommene Deutungshoheiten und eine eurozentrische Perspektive zu überwinden und zu einem partnerschaftlichen Austausch zu finden. Dies schließt auch Menschen aus Herkunftsstaaten und den betroffenen Herkunftsgesellschaften ein, die heute in Deutschland oder Europa leben.

Der angemessene Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten ist ein zentrales kulturpolitisches Handlungsfeld und ein wichtiger Beitrag zu unserer gemeinsamen postkolonialen Erinnerungskultur. Zu diesem Sammlungsgut in kulturgutbewahrenden Einrichtungen und wissenschaftlichen Institutionen gehören ethnologische, naturkundliche, historische, kunst- und kulturhistorische Objekte und Schriftgut. Zu dem Sammlungsgut gehören auch menschliche Überreste.

Viele deutsche Kultureinrichtungen stehen bei der Aufarbeitung von Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten nicht am Anfang und können auf Erfahrungen aus bereits abgeschlossenen oder noch laufenden Projekten aufbauen. Wir begrüßen, dass sich die deutschen Museen Richtlinien und Empfehlungen für einen sensiblen Umgang mit Kulturgütern wie auch mit menschlichen Überresten gegeben haben. Dies sind auf internationaler Ebene die „Ethischen Richtlinien für Museen“ des Internationalen Museumsrats (ICOM) sowie auf nationaler Ebene die „Empfehlungen zum Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Sammlungen“ und der „Leitfaden zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“ des Deutschen Museumsbundes. Wir begrüßen die Einrichtung eines neuen Förderbereichs „Kulturgüter aus kolonialen Kontexten“ beim Deutschen Zentrum Kulturgutverluste, die Planungen zum Aufbau einer „Agentur für die internationale Museumskooperation“ im Auswärtigen Amt sowie Initiativen von Ländern, Kommunen und Bund zur Digitalisierung ihrer Sammlungen und zum Aufbau von online-Plattformen. Für den Handel mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten gelten seit dessen Inkrafttreten die Vorschriften des Kulturgutschutzgesetzes.

Wir verständigen uns auf nachfolgende Handlungsfelder und Ziele. Diese bedürfen in  wesentlichen Punkten noch einer Konkretisierung und werden in einem weiteren Arbeitsprozess gemeinsam und unter Hinzuziehung von nationalen und internationalen Expertinnen und Experten , insbesondere dem Deutschen Museumsbund, dem Internationalen Museumsrat ICOM sowie den Kulturstiftungen des Bundes und der Länder – und unter Beteiligung der Herkunftsstaaten und der betroffenen Herkunftsgesellschaften weiterentwickeln und zu einer abschließenden Positionierung ausarbeiten.

Wir fordern alle öffentlichen Träger von Einrichtungen und Organisationen, in deren Beständen sich Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten befinden, aber auch  nichtstaatliche Museen, Sammlerinnen und Sammler sowie den Kunsthandel dazu auf, im Sinne dieser Eckpunkte an der Aufarbeitung der Herkunftsgeschichte von Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten aktiv mitzuwirken und die jeweils erforderlichen Maßnahmen hierfür zu ergreifen.

Handlungsfelder und Ziele

Transparenz und Dokumentation

1.) Voraussetzung für einen verantwortungsvollen Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten und die damit verbundene Aufarbeitung ist größtmögliche Transparenz, denn Transparenz ermöglicht weltweite Teilhabe.

Für eine umfassende Aufarbeitung der Herkunftsgeschichte von Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten ist es erforderlich, entsprechendes Sammlungsgut, das sich in Deutschland befindet, zu dokumentieren und zu veröffentlichen. Durch die Veröffentlichung der entsprechenden Bestände wird ein Diskurs mit Herkunftsstaaten und den betroffenen Herkunftsgesellschaften über diese möglich sein.

Wir erkennen daher die Bedeutung der Inventarisierung und Digitalisierung von  Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten an und prüfen Handlungsoptionen zur  Unterstützung von Einrichtungen, die derartiges Sammlungsgut bewahren. Wir werden prüfen, ob die Einstellung von digitalisierten Beständen durch die Einrichtungen in die Deutsche Digitale Bibliothek hierfür ein geeignetes Instrument ist.

2.) Vorrang bei der Aufarbeitung des Sammlungsgutes kommt menschlichen Überresten aus kolonialen Kontexten zu. Bei den Kulturgütern ist im Hinblick auf kurz- und mittelfristig durchzuführende Maßnahmen angesichts der hohen Zahl eine Priorisierung notwendig. Besonders relevant sind aufgrund ihrer Erwerbungsumstände diejenigen Kulturgüter, die im Rahmen formaler Kolonialherrschaften des Deutschen Reiches aus ihren Gesellschaften entfernt und nach Deutschland verbracht wurden, sowie Kulturgüter aus anderen Kolonialherrschaften, für die Rückgabeersuchen vorliegen.

3.) Insbesondere Menschen und Institutionen aus den Herkunftsstaaten und den betroffenen Herkunftsgesellschaften werden wir die Möglichkeit eröffnen, sich über Bestände von Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten in Deutschland zu informieren und konkrete Beratung, auch hinsichtlich möglicher Rückführungen und Kooperationen, zu erhalten.

Um den Zugang zu diesen Informationen deutlich zu erleichtern und zu verbessern, werden wir einen Vorschlag zur Errichtung und Ausgestaltung einer Anlaufstelle erarbeiten. Die rechtlichen Voraussetzungen, Einblicke in die Bestände öffentlicher Sammlungen zu erlangen, sind durch die Informationsfreiheitsgesetze des Bundes und der Länder gewährleistet. Wir begrüßen Schritte zur Veröffentlichung von Archivgut zur Kolonialgeschichte und zu Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten, beispielsweise die bereits erfolgte digitale Veröffentlichung der Akten des Reichskolonialamtes durch das Bundesarchiv.

Provenienzforschung

4.) Die Provenienzforschung bildet die Grundlage zur Beurteilung der Herkunft des 1 Sammlungsgutes und der Erwerbungsumstände.

Mit der Erforschung der Herkunft von Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten soll auch ergründet werden, ob eine Aneignung gewaltsam oder ohne Zustimmung des Berechtigten erfolgte. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nicht alle Kulturgüter aus kolonialen Kontexten unmittelbar gewaltsam entzogen wurden und die Dokumentationslage im Hinblick auf die tatsächlichen Erwerbungsumstände von Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten in vielen Fällen unzureichend ist. Umso notwendiger ist es, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, eine fundierte Beurteilung der jeweiligen Erwerbungsumstände durchführen zu können.

5.) Die Einrichtungen in Deutschland, welche Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten bewahren, sind aufgefordert, ihre Bestände zu erforschen.

Bei der Aufarbeitung der Provenienzen von menschlichen Überresten einerseits und Kulturgut aus kolonialen Kontexten andererseits in werden wir die deutschen kulturgutbewahrenden Einrichtungen nachhaltig unterstützen.

Bund, Länder und Kommunen als Träger der Museen und Sammlungen haben sich in den letzten Jahren bereits vielfältig engagiert und Projekte zur Sammlungserschließung und Provenienzforschung gefördert.

Präsentation und Vermittlung

6.) Wir fordern die kulturbewahrenden Einrichtungen und wissenschaftlichen Institutionen dazu auf, die Erwerbungsumstände von Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten transparent darzustellen und angemessene Formate für eine zielgruppengerechte Vermittlung der in diesem Zusammenhang relevanten Sachverhalte, Fragestellungen und Lösungsansätze zu entwickeln. Die Erfüllung dieser Aufgaben ist von zentraler Bedeutung.

Rückführung

7.) Die generelle Bereitschaft zur Rückführung von Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten, insbesondere von menschlichen Überresten, in die Herkunftsstaaten und Herkunftsgesellschaften ist wichtig für den von uns angestrebten partnerschaftlichen Dialog und eine aufrichtige Verständigung.

Kulturgüter aus kolonialen Kontexten zu identifizieren, deren Aneignung in rechtlich und/oder ethisch heute nicht mehr vertretbarer Weise erfolgte, und deren Rückführung zu ermöglichen, entspricht einer ethisch-moralischen Verpflichtung und ist eine wichtige politische Aufgabe unserer Zeit. Menschliche Überreste aus kolonialen Kontexten sind zurückzuführen.

8.) Rückführungsersuchen von Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten sind zeitnah zu bearbeiten. Gleichzeitig sind die kulturgutbewahrenden Einrichtungen aufgerufen, selbstständig und proaktiv Sammlungsgut zu identifizieren, für das eine Rückführung in Frage kommt, auch ohne dass ein vorheriges Rückführungsersuchen vorliegt.

9.) Rückführungen werden grundsätzlich nur im Einvernehmen mit den Herkunftsstaaten und den betroffenen Herkunftsgesellschaften erfolgen.

10.) In Deutschland steht die überwiegende Zahl von Einrichtungen, in deren Beständen sich Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten befindet, in der Trägerschaft und Zuständigkeit der Länder und Kommunen.

Die rechtlichen Voraussetzungen für eine mögliche Rückführung von Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten sind abhängig vom jeweils für die Einrichtungen geltenden Bundes-, Landes- und Organisationsrecht, insbesondere den Haushaltsordnungen des Bundes, der Länder und der Kommunen. Danach sind Rückgaben grundsätzlich möglich. Sofern rechtlicher Handlungsbedarf besteht, um die Rückführung von Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten zu ermöglichen, wird dem nachgekommen.

Kulturaustausch, internationale Kooperationen

12.) Der verantwortungsvolle Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten setzt den Dialog, den Austausch und die Kooperation mit den Herkunftsstaaten und den betroffenen Herkunftsgesellschaften sowie ihrer in Deutschland lebenden Diaspora voraus. Wichtig ist hierbei insbesondere der Erfahrungs- und Wissensaustausch.

Wir beabsichtigen, entsprechende internationale Kooperationen sowie den Kulturaustausch zu stärken. Dies kann etwa durch Stipendienprogramme für Kuratorinnen und Kuratoren, die Finanzierung gemeinsamer Projekte für die Forschung oder den Kapazitätsaufbau kultureller Infrastruktur erfolgen. Die Bundesregierung, ihre Mittlerorganisationen und die Kulturstiftung des Bundes engagieren sich bereits jetzt in diesem Bereich. Auch die Länder sind im Rahmen von wissenschaftlichen und kulturellen Austauschbeziehungen vielfach engagiert und haben ihre Aktivitäten verstärkt.

Ebenso wichtig ist es, bei der Erforschung und Präsentation von Kulturgut in deutschen Museen, Bibliotheken, Archiven und wissenschaftlichen Sammlungen frühzeitig den unmittelbaren Austausch mit den Herkunftsstaaten und den betroffenen Herkunftsgesellschaften zu suchen. Hier ist ein enger Dialog und partnerschaftlicher Austausch zu führen. Einseitig eurozentrische Deutungshoheiten sind nicht mehr zeitgemäß.

Wissenschaft und Forschung

13.) Die vielfach gewaltsame Aneignung von einerseits menschlichen Überresten und andererseits Kulturgut aus kolonialen Kontexten als Teil der deutschen und europäischen Kolonialgeschichte und ihre Auswirkungen bis in die Gegenwart bedürfen einer breit angelegten Erforschung, die sich vielfältigen Fragestellungen, von den Erwerbungsumständen und der Geschichte von Sammlungsgut über die ethischen und rechtlichen Rahmenbedingungen bis hin zu den gesellschaftlichen Folgen der deutschen Kolonialvergangenheit widmet. Dies erfordert Kompetenzen aus verschiedenen Wissenschaftsbereichen und die gleichberechtigte Zusammenarbeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Deutschland mit den Herkunftsstaaten und den betroffenen Herkunftsgesellschaften.

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