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„Kunst gibt mir Freiheit“

Folter, Flucht und Furcht hinterlassen Narben in menschlichen Biografien. Heilung kann durch Kreativität erfolgen. So auch in Rönneburg und Sinstorf.

Nichts ist mehr wie es war. Geflüchtete haben alles verloren, ihre Heimat, ihre Kultur, oft auch ihre Lieben.

Der Schmerz durch den Abschied ist groß. Sie haben auf der Flucht Menschen sterben sehen, waren selbst in Todesgefahr, haben Angehörige durch Krieg und Terror verloren. Es bleibt die Ungewissheit, wann und ob man die Heimat und die Freunde wiedersehen wird. Die unklare Bleibeperspektive in Deutschland belastet zusätzlich. In der Flüchtlingsunterkunft in Rönneburg und Sinstorf hilft die Kunst heilen. Die von der Kunsttherapeutin Ulrike Hinrichs initiierte Künstlergruppe für Flüchtlinge trifft sich wöchentlich zum kreativen Schaffen. Die Gruppen werden gefördert durch das Bezirksamt Harburg.

Raed beispielsweise ist ein Chirurg aus Syrien. Er war im Gefängnis und wurde systematisch gefoltert. Die kreisrunden Narben auf der Haut, die von glühenden Zigaretten stammen, sind nur ein Zeichen dafür. Die seelischen Wunden sind von außen aber nicht sichtbar. „Das Bild zeigt ein Selbstportrait von Raed. Ich bringe jede Woche eine künstlerische Inspiration mit, diesmal war es die Idee ein Portrait zu malen. Selbstbildnisse bringen besondere Herausforderungen mit sich. Denn Portraitieren hat immer auch etwas mit dem Erforschen des eigenen Ichs zu tun. Für den Auftrag zu einem Portrait wird der Druck zur optimalen Selbstdarstellung oder auch die Scham sich zu zeigen dadurch gemildert, dass kein perfektes Abbild der Person zu erschaffen ist, sondern ein Gefühlsausdruck, eine Situation oder Stimmung wiedergeben werden soll. Das Portrait besteht bei diesen Werken eher aus einer Art Innenschau, ein Portrait des Innenlebens, als könne der Betrachter in den Kopf des Künstlers blicken. Mich hat das Werk von Raed sehr beeindruckt. Die Kunst kann Unsagbares zeigen, Sie baut auch eine Gesprächsbrücke und hilft bei der Verarbeitung des Grauens. Klarzustellen ist, dass ich keine Kunsttherapie in der Gruppe mache, dennoch aber an die heilende Kraft der Kunst glaube, die sich automatisch durch das kreative Schaffen einstellt. Raed, der nach seiner Aussage zuletzt als Kind gemalt hatte, sagte bei einem Gruppentreffen „art gives me freedom“. Anders als viele andere spricht er über seine Erlebnisse im Gefängnis. Das habe ich in dieser Offenheit in meiner jahrelangen Flüchtlingsarbeit bisher selten erlebt. Auch werden die Wunden der Geflüchteten nicht immer so sichtbar, wie in seinem Bild. Meine Erfahrung aber ist, dass die Kunst dabei hilft, Unaussprechliches sichtbar zu machen. Innere Bilder und fehlende Worte finden im kreativen Schaffen ihren Ausdruck. Die Kunst wirkt auf einer fühlenden, unbewussten Ebene und hilft heilen, und zwar auch ohne dass man darüber reflektiert. Unsere Intuition kennt den Weg der Verarbeitung von Erlebtem. Sie ist wie ein inneres Leitsystem und gibt dir die Richtung vor, bevor dein Verstand überhaupt etwas kapiert hat. Und die Kunst weckt die Intuition“, sagt Hinrichs, die zu dem Thema Kunst als Sprache der Intuition [1] auch ein Buch geschrieben hat.

Es stehen aber nicht die schlimmen Geschehnisse im Vordergrund, im Gegenteil. Hinrichs konstatiert, dass das spielerische und bewertungsfreie künstlerische Schaffen vor allem auch Freude und Lebensenergie freisetze. Freude und Humor seien vielleicht die am meisten unterschätzen Themen im Bereich moderner Therapieformen, wie auch der Mediziner Dahlke feststellt. Das bestätigt auch der renommierte Hirnforscher Gerald Hüther, der ein Plädoyer für das Spielen verfasst hat. Es ist eine wichtige Quelle für Entspannung und Öffnung der Intuition. „Das Spielerische finden wir, wie beim Malen, im absichtslosen Tun, ohne Leistungsorientierung und Ziel. In der Gruppe kommen wir zusammen, lachen, haben Spaß, das ist erstmal mein Hauptziel, wenn dadurch Gespräche möglich werden, und auch über schlimme Erlebnisse berichtet werden kann, dann ist das für mich ein toller Vertrauensbeweis. Ich bohre aber niemals von alleine nach.“

Einen weiteren Vorteil hat das künstlerische Arbeiten in der Flüchtlingsarbeit noch. Es funktioniert auch ohne Worte und gemeinsame Sprache. Hände und Füße reichen, um in Kontakt zu kommen. „Das andere Portrait stammt von einer Frau aus Afghanistan. Sie spricht nur Farsi. Wir konnten uns nicht mit Worten verständigen. Wir haben ihr erschaffenes Portrait gemeinsam angeschaut. Das war ein schöner Moment der Verbundenheit. Kunst ermöglicht Kontakt und emotionale Berührung. Und auch darum geht es mir in meiner Arbeit, Menschen Teilhabe zu ermöglichen und sie willkommen zu heißen. Ich freue mich immer wieder über die neuen Begegnungen und Erfahrungen, die ich in der Künstlergruppe mache und empfinde das als sehr bereichernd.“

Portrait Flue

Sie können helfen: Ulrike Hinrichs braucht vor allem Papier. Das können auch nicht mehr gebraucht Plakate sein, bei denen man die Rückseite verwenden kann. Auch Künstlermaterial ist sehr willkommen. Kontakt www.lösungskunst.com [2]

Weiterführende Literatur:

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