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Inge Hutton ist tot

Die Initiative „Gedenken in Harburg“ trauert um die am 6. November 2021 verstorbene Inge Hutton. Seit nunmehr 35 Jahren begleitete und unterstützte sie derenArbeit.

Als Schwiegertochter des Harburger Kaufmanns Kurt Walter Horwitz, (Jg. 1893) , der am 8.11.1941 nach Minsk deportiert und anschließend ermordet wurde, hat sie eng mit Jana Bernhard und ihren Mitschülerinnen zusammengearbeitet, als sie im Jahre 2007 auf der Suche nach biographischen Spuren seiner Familie waren.

Ein Jahr später hat sie als Tochter des Hamburger Kaufmanns Alfred Pein (Jg. 1890), der am 11.07.1942 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurde, keine Mühe gescheut, um den beiden Schülerinnen Vanessa Blasek und Christina Ewald in Wort und Tat bei ihrer Aufarbeitung seines Lebensweges beizustehen.

Die Dokumentationen dieser beiden Schülerprojekte – „Jana Berhard, Sabrina Höper, Luisa Husmann, Nora Junker, Ann-Kathrin Krichel, Laura Liebing, Regina Zimmermann, `Wie waren eine glückliche Familie´- Die Familie Horwitz aus Harburg (1885 – 2007) Hamburg 2007“ und „Vanessa Blasek, Christina Ewald. Vor dem Tod in Auschwitz .- letzte Grüße an die Verwandten in Harburg. Die Geschichte der Familie Pein der NS-Zeit, Hamburg 2007“, wurden kurz danach mit einem BERTINI-PREIS ausgezeichnet.

Die `Initiative Gedenken in Harburg´ blickt mit großer Dankbarkeit auf die produktive Zusammenarbeit mit Inge Hutton in diesen beiden Jahren – und auch in der Zeit davor und danach – zurück.

Im Jahr 1986 gründete sich in der Geschichtswerkstatt Eimsbüttel die Arbeitsgruppe „Juden in Eimsbüttel“. Zwei Jahre zuvor hatte Ingeborg Hecht ihr Buch „Als unsichtbare Mauern wuchsen“ veröffentlicht, und Beater Meyer von der Initiative „Stolpersteine in Hamburg“ traf sich mit der Autorin in der Galerie Morgenland. Sie, im Buch „die große Inge“ genannt, brachte die „kleine Inge“ mit, Inge Hutton.
Einige Zeit später wollte Beate Meyer mit der Videogruppe Stadtjournal einen Film zur Situation sogenannter Halbjuden während der NS-Zeit drehen und traurigerweise verstarb die vorgesehene Zeitzeugin kurz vor Drehbeginn. Nur zögernd fragte Meyer bei Inge Hutton an, ob sie wohl einspringen würde. Für Inge hingegen war es gar keine Frage: „Selbstverständlich helfe ich Ihnen“. Man änderte das Konzept des Films und Inge enttäuschte nicht, im Gegenteil: Sie erwies sich als begnadete Erzählerin, die den künftigen ZuschauerInnen die Verfolgungszeit und ihren Umgang damit klar, präzise und sprachlich gewandt nahebringen konnte.
Der fertige Film zeigt parallel das Leben zweier „Halbjuden“: der eine, Rolf Baden, wurde von den Nationalsozialisten als „Mischling ersten Grades“ verfolgt, die andere, Inge Hutton, als „Geltungsjüdin“, weil ihre Mutter bei der Eheschließung zum Judentum konvertiert war. Inge übernahm schon als Jugendliche die Verantwortung für die Familie, die ihre Mutter nicht tragen konnte oder wollte. Ihr Vater, seine zweite Ehefrau und auch ihre Tanten wurden im Holocaust ermordet, sie selbst kam gerade noch davon. Unser Film, 1989 fertig gestellt, feierte Premiere in der Israelitischen Töchterschule und wurde seitdem hunderte Male an den unterschiedlichsten Orten gezeigt und diskutiert, in Kulturzentren, der Uni oder in Schulen, zuletzt 2019 im „Filmraum“ in Eimsbüttel.
Inge nahm oft an diesen Veranstaltungen teil, ebenso, wenn der Videofilm „Trümmerjahre. Frauen in Hamburg 1943-1953“, gezeigt wurde, den Beate Meyer im Rahmen ihrer Arbeit für die „Werkstatt der Erinnerung“ an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte 1993 erstellt hatte. Neben anderen Frauen berichteten auch hier die große wie die kleine Inge von ihren Erfahrungen in der Endphase der NS-Herrschaft und der frühen Nachkriegszeit. Mit diesem zweiten Film „reisten“ Inge und Meyer monatelang im Auftrag des Frauenbildungswerkes zu den Fraueninitiativen und -zentren der Stadt. In den Diskussionen stand sie souverän Rede und Antwort und beeindruckte die ZuhörerInnen immer wieder durch ihren Mut, Klugheit und Klarheit.
Inge war es wichtig, an die Verfolgten und Ermordeten zu erinnern, an ihre eigenen Verluste und die anderer. Bis zu deren Auflösung gehörte sie deshalb der „Notgemeinschaft der durch die Nürnberger Gesetze Betroffenen“ an. Und sie nahm an vielen Veranstaltungen teil, las Bücher und – als Meyer später die Biographieforschung zu den Stolpersteinen anleitete – gab sie ihr und anderen bereitwillig Auskunft über ihren Vater, ihre Tanten, ihren Jugendfreund oder auch emigrierte Freunde der Familie, die in deren Lebensgeschichte einflossen. Auch in den Eingangssitzungen des Seminares „Vom Namen zur Biographie“ am Fachbereich Public History der Uni Hamburg berichtete sie mehrfach als Betroffene und Zeitzeugin, nun aber auf eigenen Wunsch mit dem Schwerpunkt auf die Bedeutsamkeit der Erinnerung für Angehörige, aber ebenso für nachgeborene Deutsche. Es hatte auch ihr viel bedeutet, dass eine ehemalige Nachbarin einen Stolperstein für ihren Vater vor dem ehemaligen „Judenhaus“ Bornstr. 22 hatte verlegen lassen.
Erschien wieder eines der mittlerweile 22 Bücher unserer Reihe „Stolpersteine in Hamburg“, gehörte Inge zu unseren intensivsten LeserInnen. Sie nahm sich Zeit dafür: Bequem in ihrem Lehnstuhl sitzend, schlug sie das jeweilige Buch hinten auf und las zunächst das Personenregister. Sie tauchte dann ein in eine vergangene Welt, die Welt ihrer Kindheit und Jugend. Sie „traf“ dort nicht nur auf Freunde oder nahe Bekannte, sondern auch auf Läden, Geschäfte oder Ereignisse und traurige wie gute Erinnerungen stiegen auf. Manche Stellen markierte sie für ihren Sohn, manchmal bat Beate Meyer auch, ein Exemplar in die USA zu schicken, um die Nachfahren von Freunden zu informieren.
Das Programm der Galerie Morgenland und des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden pflegte sie aufmerksam zu studieren und nahm, wann immer es ging, an den Veranstaltungen dort oder im Rahmen der Stolperstein-Biographieforschung teil. Als ihr 100ster Geburtstag bevorstand, wollte sie sich auf der Feier keine Geschenke, sondern Spenden für Stolpersteine wünschen. Die beiden Sparschweine blieben ungenutzt: Corona machte ihr einen Strich durch die Rechnung, die Feier fand nicht mehr statt. Ebenso musste die des 101sten Geburtstags ausfallen.
„Wir verlieren eine hochgeschätzte Zeitzeugin, eine mutige, kluge, interessierte, humorvolle und lebenslustige Zeitgenossin und liebe Freundin gleichermaßen“, so die Initiative „Stolpersteine in Hamburg“.

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