NEUJAHRSANSPRACHE

Ich heiße Sophie und bin Denkerin. Ich denke nicht immer geradeaus, sondern manchmal auch um drei Ecken. Wer meine Kolumne lesen möchte, sollte sich darauf gefasst machen. Ebenso auf bisweilen staubtrockenen Humor.

Alles, was ich von mir gebe, meine ich nur gut. Ich belle, aber ich beiße nicht, selbst wenn es wie Spott klingt. Ich will nur spielen und bin menschenlieb.

Dies war eine kleine Ansprache in eigener Sache, um dafür zu sorgen, dass man mich zwar ernst, aber bitte nicht zu ernst nehmen sollte.

Zum Ausklang des Jahres bin ich wie alle anderen auch nachdenklich, ziehe Bilanz und sammle gute Vorsätze für das neue Jahr. Ein Rückblick auf 2016 bringt unweigerlich auch die Silvesternacht noch einmal ins Gedächtnis. Ich habe in meinem Archiv gestöbert und bin dabei auf zwei Texte gestoßen. Einen klugen Aufsatz zum Flüchtlingsthema kann nachlesen, wer will und zwar hier: www.geschichtenkorb.de

Und in meiner Tagebücherei fand ich folgendes:

ZÜNDSTOFF ZU SILVESTER

Es mutete wie ein schlechter Scherz ohne Pointe an. Als ich von den Übergriffen in der Silvesternacht erfuhr, wollte ich lieber an eine gut organisierte Verschwörung glauben als an einen Wahrheitsgehalt. Zu ungeheuerlich war der Vorwurf: Hunderte von Anzeigen wegen massenhafter sexueller Übergriffe und Diebstähle!

Im Fernsehen verfolgte ich einen Bericht von Spiegel TV und sah und hörte einen Mann, der so vermummt war, dass nicht einmal die Augen zu sehen waren. Zwischen tief ins Gesicht gezogener Mütze und hochgezogenem Schal war vermutlich ein Sehschlitz, welcher allerdings nur zu erahnen und nicht zu sehen war. Dieser Mann erklärte in die Kamera, das müssten Syrer oder Iraker gewesen sein, weil die noch nie eine Frau gesehen hätten. Nordafrikaner wie er hätten das nicht nötig, bei ihnen gebe es Frauen zu Hauf. Er bräuchte nur mit dem Finger schnippen, er kam also genauso wie seine Landsleute als möglicher Täter nicht in Frage.

Ich stutzte. In Syrien und im Irak gibt es keine Frauen? Das ist ja furchtbar! Das arme Land! Oder bekommt man sie vielleicht nur nicht zu Gesicht, weil sie sich in einer Burka verstecken müssen oder gar das Haus nicht verlassen dürfen, um die männlichen Gemüter in ihrem Land nicht zu erhitzen?

Ich glaubte dem Vermummten nicht so recht. Ja, aber was war denn nun wahr? Was sollte, was durfte, was konnte ich glauben? Entweder gab es massenhafte falsche Zeugenaussagen und Polizei und andere offizielle Stellen steckten unter einer Decke – was nach der NSU-Affäre durchaus im Bereich des Möglichen liegen könnte – und die Medien ließen sich mal wieder instrumentalisieren.

Oder es war etwas dran oder sogar alles wahr und dann bleibt nur, sich an den Kopf zu fassen, diesen ungläubig, aber wirkungslos zu schütteln und sich die Haare zu raufen, während man sich fragt: Wie konnten sie nur?! Unsere Rechtsordnung und die Würde unserer Frauen so mit Füßen treten? Unsere Gastfreundschaft dermaßen missbrauchen?

Verzweifelte Erklärungsversuche: Kulturelle Unterschiede in Bezug auf die Stellung der Frau, Unterdrückung und Gewalt, Leben in einer Diktatur, die Erfahrung des Rechts des Stärkeren, außer Kraft gesetzte Moral in Kriegszeiten, Frust in Flüchtlingslagern, Notstand, Anonymität, Gruppendynamik und Respektlosigkeit gegenüber einem offensichtlich ohnmächtigen Rechtsstaat, der sich mit der Strafverfolgung so schwer tut und als Autorität scheinbar von manchen nicht ernst genommen wird. Wenn unsere Rechtsordnung verhöhnt und die Frauen hierzulande wie Freiwild behandelt werden, wird unsere Wertegemeinschaft definitiv überstrapaziert – und so wünsche auch ich mir ein hartes Durchgreifen bei überführten Straftätern. Denn ich möchte weiter daran glauben können, dass dies nicht der Anfang vom Ende ist. Unsere Werte wie Freiheit, Gleichheit, Toleranz, Respekt und Mitmenschlichkeit sollen diese Strapazen überdauern und beim Kultur-Crash nicht unter die Räder kommen.

Ich kann mir vorstellen, dass es eine große Versuchung bedeuten mag, wenn plötzlich so viel Begehrenswertes in greifbarer Nähe ist, aber das hier ist kein Selbstbedienungsladen, wo man sich einfach nehmen kann, was man haben will. Ich stelle mir vor, dass die Hemmschwelle bei einigen gesunken sein mag, nachdem sie der Hölle entkamen, die Gefahren in ihrem Heimatland und auf der Flucht überstanden. Vielleicht haben einige schon im Krieg in ihrem Heimatland oder auf der Flucht ihre Hemmschwelle und ihren Anstand verloren, und so kann sie kaum noch etwas schrecken, ein schwacher Arm des Gesetzes schon lange nicht. Aber stellt sich jenem Mob nicht die Frage, was wohl Allah von ihrem Treiben hält? Ich an ihrer Stelle hätte Angst, verflucht und im Paradies nicht zugelassen zu werden. Oder dort feststellen zu müssen, dass die 77 Jungfrauen doch nicht unberührt geblieben sind, weil schon welche wie sie vorher dort waren und sich vergangen haben.

Ich hoffe, sie schämen sich eines Tages in Grund und Boden. Alternativ wünsche ich sie mir dahin, wo der Pfeffer wächst. Oder dass die Frauen, die vor Empörung kochen, ihnen die Suppe versalzen.

Wie soll es bloß weitergehen? Wollen wir in Angst erstarren und das schlimmste erwarten, nämlich Wiederholungstäter? Wir sollten bei Besinnung bleiben, und das nicht nur zur Weihnachtszeit. So viele Menschen sind gekommen, denen wir solche Schandtaten nicht zurechnen dürfen. Die auf der Suche nach Schutz sind und die wir nicht in Stich lassen oder sie gar anfeinden sollten.

Damit Integration gelingen kann und zwar in eine Kultur, die keine feindliche Haltung einnimmt, braucht es viele helfende Hände, Grips im Kopf und Sprachvermittlung. Wir sollten lernen, uns gut zu verstehen. Eine ganz praktische Übung: es werden empathische Menschen gesucht, die mit Schülern Lesetraining machen. Über den Austausch kommen sich alle näher. Ich bin dabei. Ist das ein Wort? Nein, viel mehr als das. Meine ganz persönliche Neujahrsansprache, lange Rede, kurzer Sinn: ein guter Vorsatz für das Neue Jahr.

(31. Dez.2016, SZ)

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