100 Jahre Chilehaus Hamburg – das ist auch Anlass, mal über Hamburgs Geschichte mit dem Salpeter genauer nachzdenken. Das MARKK tut dies nun.
Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des Chilehauses in Hamburg widmet das MARKK der Hintergrundgeschichte des Reichtums, der den Bau dieses Architekturdenkmals ermöglichte, eine Ausstellung. Eröffnung ist am 23. Mai 2024.
Sie rückt die Arbeits- und Lebensbedingungen der Salpeterarbeiter:innen – die sich selbst Pampinos/Pampinas nennen – in der Atacama-Wüste in Chile in den Vordergrund. Als ab Mitte des 19. Jahrhunderts Salpeter als Grundlage für Dünger, Sprengstoff und Farben zu einem sehr gefragten Rohstoff wurde, begann der industrielle Abbau in dieser chilenischen Wüstenregion, eine der trockensten der Welt. Die Ausstellung erzählt vom Widerstand und der Identität der Arbeiter:innen und beleuchtet Praktiken einer einseitigen Rohstoffausbeutung, die bis heute nichts an Aktualität verloren haben.
Die hohe Nachfrage nach dem sogenannten weißen Gold begründete Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts den Reichtum europäischer „Salpeterbarone“, vor allem in Großbritannien (London) und Deutschland (Hamburg), darunter die Hamburger Unternehmer Hermann C. J. Fölsch und Henry B. Sloman, der Erbauer des Chilehauses. Nach der Unabhängigkeit Chiles Anfang des 19. Jahrhunderts blieben viele kolonial geprägten Strukturen erhalten. Die Rohstoffausbeutung, die in der Kolonialzeit u.a. mit den spanischen Gold- und Silberminen ihren Anfang nahm, wird heute als Extraktivismus bezeichnet. Dabei handelt es sich um eine Wirtschaftsform, die primär auf den unverarbeiteten Export wertvoller Rohstoffe und einen hohen Kapitalertrag ausgerichtet ist, und die häufig in den Händen ausländischer Kapitalgeber und Unternehmen liegt. Damit einher gehen Umweltzerstörung, prekäre Arbeitsverhältnisse und ein großer Verbrauch natürlicher Ressourcen zu Lasten der ansässigen, oft marginalisierten, lokalen Gemeinschaften.
Historische Fotografien aus Privatarchiven
Anhand zahlreicher, bislang kaum bekannter historischer Fotografien aus Privatarchiven von Nachkommen deutscher Salpeterakteure (wie der Familie Sloman, Fölsch, Framm u.a.), und der fotografischen Sammlung des MARKK, wirft die Schau ein Schlaglicht auf die Produktion des Salpeters und die Lebensumstände in den eigens errichteten Wüstenstädten der Salpeterwerke. Die Fotos dienten repräsentativ-unternehmerischen, teils auch privaten Zwecken, und spiegeln einen einseitigen, kolonial geprägten, oft auch beschönigenden Blick auf die Abbaustätten und Lebensumstände. Die Ausstellung regt dazu an, die Fotos kritisch zu lesen und zu hinterfragen.
Die chilenischen Sammlungen des MARKK
Während die Wanderarbeiter:innen aus Chile, Bolivien und Peru, die vielfach auch aus den Bevölkerungsgruppen der Aymara, Quechua, Lickan Antay (Atacameños/as) oder Mapuche rekrutiert wurden, fernab ihrer Herkunftsorte in den Salpeterwerken (Oficinas) der Wüste Schwerstarbeit unter schwierigen klimatischen Bedingungen leisteten, genossen die europäischen Angestelltenmeist ein privilegiertes, komfortables Leben. Einige dieser europäischen Angestellten entwickelten eine Vorliebe für archäologische und ethnografische Artefakte.
Die chilenischen Sammlungen im MARKK stammen vielfach von solchen Geschäftsleuten und Angestellten im Rohstoffhandel und verweisen darauf, dass die wirtschaftliche Erkundung und Ausbeutung des Bodens und der Region mit einer kulturellen einher gingen.
Zeitgenössische Kunst und Erinnerungskulturen
Zeitgenössische Arbeiten der chilenischen Künstler:innen Juana Guerrero, Camilo Ortega und Francisca García eröffnen aktuelle, kritische Perspektiven auf diese prägende Zeit und fragen nach den Überresten und Auswirkungen der extraktivistischen Wirtschaftsweise in der heutigen chilenischen Gesellschaft. Auch Lieder und musikalische Werke, wie die berühmte Cantata de Santa María de Iquique von 1969, die an die blutige Niederschlagung eines Massenstreiks der Salpeterarbeiter:innen erinnert, sind in der Ausstellung zu hören.
Videointerviews und Ausschnitte aus Dokumentationen zu den Themen Salpeter und Lithium präsentieren unterschiedliche Perspektiven und Erinnerungen. Die Kurzdokumentation „Salz der Wüste“ der chilenischen Stiftung Altiplano (Fundación Altiplano) nimmt Bezug auf ein Projekt, innerhalb dessen das Arbeiter:innentheater des ehemaligen britischen Salpeterwerks Chacabuco restauriert werden soll. Das Werk Chacabuco ist heute ein Nationaldenkmal, auch weil es zur Zeit der Pinochet-Diktatur (1973-1990) als Lager und Folterzentrum für politische Gefangene diente.
Extraktivismus heute: Lithium, das neue „weiße Gold“
Die Rohstoffausbeutung in Chile spielt weiterhin eine entscheidende Rolle: Neben Chiles Bedeutung als einer der größten Kupferexporteure weltweit, nimmt Lithium in jüngster Zeit einen immer größeren Stellenwert ein und gilt als das neue „weiße Gold“ im Länderdreieck der Atacama-Wüste zwischen Chile, Bolivien und Argentinien. Als unverzichtbarer Bestandteil von Batterien für Handys und Elektromobilität ist das Leichtmetall nicht mehr aus unserem Alltag und der angestrebten Verkehrswende im globalen Norden wegzudenken.
Fotografien von Tom Hegen und Felix Dorn dokumentieren die gewaltigen Umwelteingriffe im Zusammenhang mit dem Lithiumabbau und dessen Auswirkungen auf die Hochlandgemeinden. In dem Dokumentarfilm „Salares Andinos“ kommen Betroffene und Umweltaktivist:innen der Organisation Observatorio Plurinacional de Salares Andinos zu Wort, die gegen den Lithiumabbau in Chile, Argentinien und Bolivien Widerstand leisten.
Katalog
Zur Ausstellung erscheint ein illustrierter zweisprachiger Katalog (deutsch/spanisch, Umfang ca. 200 Seiten) mit Beiträgen renommierter Expert:innen aus Chile, darunter die Historiker Sergio González und Damir Galaz-Mandakovic sowie der Archäologe Benjamín Ballester.
Kooperationen
Die Ausstellung ist im Austausch mit unterschiedlichen Expert:innen in Hamburg und Chile entstanden, darunter Nachfahr:innen von Salpeterakteuren in Deutschland, wie der Familien Sloman, Fölsch, Framm, Wiegering u.a., aber auch mit Historiker:innen, Anthropolog:innen, zeitgenössischen Künstler:innen und Organisationen in Chile sowie mit dem chilenischen Generalkonsulat in Hamburg.
Gefördert durch die Behörde für Kultur und Medien der Freien und Hansestadt Hamburg, Freunde des MARKK e. V. und Eigentümergemeinschaft H. C. J. Fölsch-Erben.
Zusammenarbeit hinsichtlich des Veranstaltung- und Vermittlungsprogramms mit dem Deutschen Hafenmuseum Hamburg (Stiftung Historische Museen Hamburg) das vom 5. Juni – 31. Oktober 2024 die Werkstattpräsentation „Unbequeme Erinnerungen“ zur maritimen Infrastruktur des Salpeters am Standort Schuppen 50a zeigt
Die Ausstellung läuft ab 24. Mai 2024 bis 26. Januar 2025.
MUSEUM AM ROTHENBAUM | Kulturen und Künste der Welt |Rothenbaumchaussee 64 |20148 Hamburg | markk-hamburg.de