Die Kolumne von Sophie Selbst-Zweifel

Schlangenstudium

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Mein Name ist Sophie und ich bin Denkerin. Schlangen gab es schon immer, also bereits in vorcoronaler Zeit. Besonders lebhaft sind mir diejenigen vor Damentoiletten und an Supermarktkassen im Gedächtnis geblieben.

Es ging allerdings kein Weg daran vorbei: Sie mussten mit der Zeit gehen, mit dem Ergebnis einer evolutionären Schlangenverlängerung. Immerhin ist jetzt das Risiko gesunken, dass man von hinten mit einem Einkaufswagen angeschoben wird; Markierungen sei Dank!
Solange die Zeichen noch auf Abstand stehen, bietet sich vielerorts die Gelegenheit, das menschliche Sozialverhalten zu studieren, praktischerweise am Feldversuch teilzunehmen und andere sowie sich selbst zu beobachten.
Erstens kann Schlangestehen die Kommunikation fördern, denn kreuzen sich selbige, sind Nachfragen sinnvoll: „Sind Sie das Ende der Schlachterschlange oder stehen Sie beim Bäcker an?“
Zweitens kann es zur kategorischen Erfassung einzelner Stereotypen beitragen. Die vermutete Mehrheit sieht meistens nichtssagend aus. Das sind augenscheinlich diejenigen, die alles stillschweigend erdulden. Ob es sich dabei um stoische Gelassenheit handelt oder im Gegensatz zum äußeren Schein innerlich brodelt, ist schwer zu beurteilen. Man kann in die Menschen nun mal nicht hineinsehen, und aus z. T. vermummter Mimik lässt sich auch nur ansatzweise etwas ablesen.
Vielleicht verfluchen sie gedanklich gerade all jene, die vor ihnen dran sind. Doch sie sind diszipliniert genug, die Flüche für sich zu behalten. Andere sind dagegen sichtlich oder hörbar genervt. Ungehalten darüber, dass welche das Gleiche wollen wie sie. Einige mögen sich sorgen, dass alles alle ist, wenn sie endlich selber am Ziel ankommen und recken ihre Köpfe, um sich mit Blicken weiter vorne zu platzieren.
Es gibt allerdings auch seltene Exemplare. Beispielsweise beobachtete ich einmal eine Geistersteherin, die links aus der Reihe tanzte – und dann denjenigen permanent im Weg stand, die verrichteter Dinge wieder gehen wollten. Das irritierte stets nur den Gegenverkehr, der sich an der Frau vorbeischlängeln musste, sie selber blieb konsequent bei ihrer verqueren Einstellung.
Eine andere Frau bemühte sich um anschauliche Gemütsruhe, indem sie die Yogahaltung „Der Baum“ einzunehmen versuchte: ein Bein angewinkelt und abgestützt am Standbein. Eine denkwürdige Demonstration auf der Suche nach innerem und äußerem Gleichgewicht – leider nur mit mäßigem Erfolg.
Zeitvertreiber gibt es häufiger als vorgenannte Ausnahmen. Zeitvertreiber widmen sich gerne ihrem Smartphone, um die Wartezeit zu verkürzen, verlieren bisweilen den Anschluss, weil sie zu vertieft sind, um zu bemerken, dass es längst weitergeht.
Dann gibt es noch die Renitenten, die sich nicht vorschreiben lassen wollen, wo und wie sie sich anzustellen haben, und natürlich das Pendant dazu: Diensteifrige Aufsichtspersonen, die diejenigen anpampen, die nicht vorschriftsmäßig anstehen.
Und ich, wo stehe ich? Natürlich dazwischen, leider ohne Stühle, denn es ist ja eine An-Steh-Schlange und kein Wartezimmer. Ich habe ein bisschen was von allen: schwanke wackelig zwischen den unterschiedlichen Haltungen und Gemütszuständen, mal verärgert, mal nachsichtig, mal amüsiert.
Ich denke mich als Bindeglied ohne Haftung in einer Menschenkette, wo jede*r für sich selber steht. Gibt es kein höheres Ziel? Doch, vielleicht: Wenn Geduld eine Tugend ist, lohnt es sich möglicherweise, das über jeden Zweifel erhabene Schlangestehen zu kultivieren und gnädig miteinander umzugehen.
Aus der Not eine Tugend zu machen, war schon immer ein schlauer Rat. Da ist noch viel Luft nach hinten.

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