Filmemacher von „der marktgerechte Patient“ über den neuen Film und ihre Arbeit:

Des Pudels Kern

Bildausschnitt Filmplakat "Der marktgerechte Mensch"

„Der marktgerechte Patient“ ist ein Film, der aktueller kaum sein könnte. Sein Nachfolger heißt „der marktgerechte Mensch“ und vertieft die Schwächen unseres Systems. `Tiefgang` fragte bei den Filmemachern nach.

Am 14.01.2020 war die Premiere der neuesten Produktion von KernFilm. Im Abaton wurde vor ausverkauftem Haus „Der marktgerechte Mensch“ gezeigt. Mit dabei natürlich Leslie Franke und Herdolor Lorenz, die Bilder und Beispiele dafür fanden, einen Systemfehler bewegend zu beleuchten.

Schon der Vorläufer „Der marktgerechte Patient“ hatte eindrücklich auf Missstände aufmerksam gemacht. Kosten- und Leidensdruck sind eng miteinander verbunden, die Daumenschraube der Gewinnmaximierung erpresst das Gemeinwesen. Die soziale Marktwirtschaft, gesellschaftliche Solidarsysteme, über Jahrzehnte erstritten, stehen zur Disposition.

Wir sprachen mit den Filmemachern über ihr gesellschaftliches Engagement mit ungewöhnlichen Mitteln.

Tiefgang (TG): Ihr dreht „Filme von unten“. Was heißt das?

Herdolor Lorenz: Das bedeutet, dass sie ausschließlich durch eine breit gestreute privat organisierte Finanzierung realisiert werden können. Jede/r kann mehr oder weniger als 20 € spenden, je nach eigenem Ermessen. Am Ende erhalten alle, die mitgemacht haben, sowohl eine Kopie des Films (DVD oder Datei) als auch das Recht zu zwei nichtkommerziellen Aufführungen. Auf diese Weise wird der Film weiter verbreitet.

TG: Warum habt Ihr gerade diese Form gewählt?

Herdolor Lorenz:  Weil wir so sicherstellen, dass der Film keine Auflagen erfüllen muss oder einer anschließenden Zensur unterliegt.

TG: Was und wer soll mit dem Film erreicht werden?

Leslie Franke: Mündige Bürger*innen. Wir zeigen Missstände auf, beleuchten verschiedene Aspekte, um am Ende Menschen zu motivieren und handlungsfähiger zu machen.

TG: Das Besondere an euren Filmen ist, dass Ihr Betroffene und Fachleute zu Wort kommen und Bilder für sich sprechen lasst. Keine Stimme aus dem Off kommentiert die Szenen. Nur vereinzelt werden Zahlen eingeblendet, z. B. zur Abnahme der unbefristeten oder sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Insgesamt also ein stiller Film – und darum umso eindringlicher. Wieviel Arbeit steckt in so einem Projekt?

Herdolor Lorenz: Die Produktion des Films „Der marktgerechte Mensch“ hat vier Jahre gedauert, aber nur, weil wir in der Zwischenzeit auch den Film „Der marktgerechte Patient“ fertiggestellt haben. Aber drei Jahre pro Film kann man schon rechnen.

TG: Wie und wo findet man Unterstützung für solche Projekte?

Leslie Franke: Zu Beginn suchen wir Organisationen, die unser Projekt unterstützen und bei ihren Mitgliedern für den Film werben. Gleichzeitig machen wir eine Webseite, auf der all unsere Recherchen zu finden sind. Und dann schicken wir noch Rundmail an die Unterstützer der bisherigen Filme.

TG: Wie findet man Menschen, die bereit sind, vor der Kamera auszusagen?

Herdolor Lorenz: Wir suchen grundsätzlich Personen, die schon gelernt haben, sich zu wehren und die es wichtig finden, dass Ihr Beispiel an die Öffentlichkeit kommt. Das ist allerdings nicht immer leicht.

TG: Welche Rückmeldungen gibt es vom Publikum?

Leslie Franke: Es ist unglaublich! Bisher hatten wir nur volle Säle. Und wir bekamen immer zu hören, man müsse den Film im ganzen Land verbreiten. Dafür sorgen dann zu 99% jene Bürger*innen, die für den Film gespendet oder ihn anderweitig unterstützt haben. Sie organisieren selbst Filmveranstaltungen in ihrem Ort.

TG: Am 22. April sollte KernFilm ins Stellwerk nach Harburg kommen. Ein weiterer Termin im Kulturhaus Süderelbe für den Herbst ist in Planung. Was erwartet die Besucher?

Leslie Franke / Herdolor Lorenz: Zum einen natürlich der Film über ein krankes System, verknüpft mit der Hoffnung auf Besserung durch Solidarisierung. Aber nach der Aufführung gibt es die Gelegenheit zum Austausch.

TG: Wir bedanken uns ganz herzlich für dieses Interview und freuen uns auf die kostenlose Veranstaltung, deren Besuch sich auf jeden Fall lohnt!

www.der-marktgerechte-mensch.org

(das Interview für´Tiefgang` führte Sonja Alphonso)

Zum Film:

Ein Film von Leslie Franke und Herdolor Lorenz, Länge: 99 Minuten, Format: DCP

Europa ist im Umbruch. Seit dem neuen Jahrtausend und zuletzt nach der Finanzkrise wurden neue Weichen gestellt. Die soziale Marktwirtschaft, gesellschaftliche Solidarsysteme, über Jahrzehnte erstritten, stehen zur Disposition. Besonders der Arbeitsmarkt und mit ihm die Menschen verändern sich rasant. Hier setzt der Film „Der marktgerechteMensch“ an.

Noch vor 20 Jahren waren in Deutschland knapp zwei Drittel der Beschäftigten in einem Vollzeitjob mit Sozialversicherungspflicht. 38% sind es nur noch heute. Aktuell arbeitet bereits die Hälfte der Beschäftigten in Unsicherheit! Der Film zeigt Fahrer*nnen für Essenslieferanten, die von einem Algorithmus gesteuert werden, Beschäftigte des Einzelhandels, die auf Abruf arbeiten, Crowdworker, die auf Internet-Plattformen mit der ganzen Welt konkurrieren. Auch Menschen in bisher sicher geglaubten Arbeitsstrukturen an Universitäten erleben wir in befristeten Arbeitsverhältnissen. Hier gibt es Planungshorizonte von nur wenigen Monaten bis zu einem Jahr. Dr. phil. Dr. rer. med. Peter Ullrich freut sich über einen neuen Vertrag für einen Monat: „Die Rente ist gesichert“, feixt er. All diesen modernen Arbeitsverhältnissen ist eines gemein: Der Arbeitgeber zieht sich aus sozialen Verpflichtungen zurück und lädt das wirtschaftliche und soziale Risiko auf den Rücken der Beschäftigten.

Dabei stellt der Soziologe Simon Schaupp eine gewollte Atomisierung der Beschäftigten fest. „Eine Tendenz, die intendiert, dass Leute isoliert werden und sich nicht so lästig selbstorganisieren.“ Bei mittleren- und oberen unbefristeten Leitungspositionen stellt sich das zwar etwas anders dar. Aber auch hier wird die Verantwortung für das Schicksal des Unternehmens gerne auf die Mitarbeiter*innen abgeschoben. Beliebt ist das „Management by crisis“ – die Beschäftigten sollen das Unternehmen retten. Sie opfern sich dann auf, widmen ihr ganzes Leben der Firma. Was sie aber nicht davor rettet, am Telefon gekündigt oder wie ein Schwerverbrecher von der Security vor die Tür begleitet zu werden. Wissenschaftler erklären, wie solcher Stress und „ausgeschlossen sein“ systematisch körperliche Krankheiten auslösen. Der Film zeigt Beispiele, wie Menschen an dieser Last und Unsicherheit zerbrechen, wie Depression und Burnout das Leben zur Hölle machen. Selbst in dieser fatalen Situation glauben noch viele, an ihrem Schicksal schuld und ein Einzelfall zu sein. Fatal ist, dass all diese gezeigten Arbeits- und Lebensformen oft mit sozialer Isolierung und Einsamkeit verbunden sind – Symptome eines zerbrechenden Bindegewebes der Gesellschaft.

In einer Welt, die von Konkurrenz, Ausbeutung und uneingeschränkter Freiheit der Investoren getrieben ist, gibt es ein wesentliches Prinzip: „Race to the bottom“, der Wettbewerb um immer schlechtere Arbeitsbedingungen und niedrigere Löhne bei missachteter Menschenwürde. DER MARKTGERECHTE MENSCH zeigt unter welchen Bedingungen Fahrer von osteuropäischen Subunternehmern in der LKW-Transportbranche arbeiten und Nobelketten der Textil- und Bekleidungsindustrie. Diese lassen ihre Produkte in Osteuropa von Arbeiterinnen fertigen, die 12 Stunden, 7 Tage die Woche Produkte im Akkord zusammennähen, für einen Lohn der fünffach unter dem Existenzminimum liegt. Und dennoch zieht die Karawane weiter dorthin, wo die Bedingungen für Investoren noch günstiger sind. Im Focus steht Äthiopien: Die ArbeiterInnen verdienen dort 27 Dollar im Monat, das ist die Hälfte des Lohnniveaus von Bangladesh! – Dieser Wahnsinn ist nicht alternativlos. Der Film stellt Betriebe vor, die nach dem Prinzip des Gemeinwohls wirtschaften, Beschäftigte von Lieferdiensten, die einen Betriebsrat gründen und die Kraft der Solidarität von jungen Menschen, die für einen Systemwandel eintreten. „Der marktgerechte Mensch“ ist ein Film, der Mut macht, sich einzumischen und zusammenzuschließen. Denn ein anderes Leben ist möglich.

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