Das emotionale Nachbeben des Zweiten Weltkriegs in deutschen Familien ist bis heute spürbar. Angst, emotionale Taubheit und Erstarrung prägten die Atmosphäre der Nachkriegszeit. Mit der Kunst als Ausdrucksform können wir uns dem bis heute nicht überwundenen Erbe stellen.
von Ulrike Hinrichs
In den Nachkriegsjahren waren die Menschen in Deutschland mit dem Überleben beschäftigt. Die Zeit war geprägt von einer kollektiven Erstarrung und einem toxischen Schweigen, Ausdruck von Ohnmacht, Schuld und Scham. Die Zeit des Nationalsozialismus hatte die dunkelste Seite des Menschen sichtbar gemacht. Der amerikanische Historiker Raul Hilberg konstatiert, dass jeder deutsche Zeitgenosse in irgendeiner Weise in den Nationalsozialismus involviert gewesen sei und dass es keinen geometrischen Ort der Beobachtung und des Nichtbeteiligtseins gegeben habe (in: Schwendemann, Wilhelm (2003). Evangelische Hochschule Freiburg. Sozialforschung).
Die quälenden Gefühle wurden mit aller Kraft unterdrückt. Härte und Leistung wurde propagiert. „Hör auf zu jammern“ war die Devise. Diese Atmosphäre kollektiver Kälte unterdrückte jedes Mitgefühl. „Alles was nicht unmittelbar zum Tode führt, härtet ab“, hörte nicht nur ich in meiner Kindheit.
Es entstanden Muster des Schweigens, der Verdrängung und der inneren Abkapselung. Und diese Muster wirkten weiter. Kinder und Enkel der Kriegsgeneration wuchsen in familiären Strukturen auf, in denen emotionale Distanz als Selbstschutz diente. „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“, lautete ein typischer Glaubenssatz. Liebe, Zärtlichkeit und Offenheit machten Platz für Pflichterfüllung, Kontrolle und ein tiefes Misstrauen gegenüber Gefühlen. Scham und Schuldgefühle über die eigene Rolle im Krieg oder über das bloße Überleben unter moralisch kaum ertragbaren Bedingungen ließen keinen Raum für individuelle Verarbeitung. Die Folge war eine kollektive emotionale Starre, die sich nicht durch Worte, sondern durch Verhalten und Atmosphäre weitervererbte.
Die stille Macht des Schweigens
Die Kinder der Kriegsgeneration, die die emotionalen Wunden ihrer Eltern nicht begreifen konnten, wuchsen in einer Welt auf, die von unausgesprochenen Ängsten, emotionaler Taubheit und existenziellen Belastungen geprägt war. Erinnerungen an den Krieg wurden tabuisiert. „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“, lautete der Volksmund.
Gibt es ein Familienkarma?
Forschungen der Psychotraumatologie haben inzwischen deutlich gemacht, dass traumatische Erfahrungen nicht nur innerhalb einer Generation, sondern über mehrere Generationen hinweg weitergegeben werden können. Diese Weitergabe erfolgt nicht nur über die direkten Erlebnisse, sondern Stressmuster, Glaubenssätze und die Erziehung und über Stimmungen und nonverbale Kommunikationskanäle.
Mehr dazu erfährst du in meinem Artikel auf Tiefgang: Die Narben der Geschichte – vererbte Traumata
In den Familien entwickelten sich oft unausgesprochene Regeln des Umgangs mit Gefühlen: „Trauer ist schwach“, „Ängste dürfen nicht gezeigt werden“ oder „Schweigen schafft Kontrolle“. Eine zentrale Rolle spielen dabei emotionale Geheimnisse, die tief in der familiären Dynamik verankert sind. Kinder nehmen sie auf, ohne sie zu verstehen, und übernehmen unbewusst die Verhaltensweisen ihrer Eltern oder Großeltern. Sie erleben die Welt durch eine Brille der Zurückhaltung und emotionalen Reserve.
Unverarbeitete Traumata wirken auch auf die folgenden Generationen. Auch die Kriegsenkel tragen häufig noch immer die emotionalen Narben der Vorfahren. Ihnen fällt es schwer, die inneren Lasten zu benennen, weil die Verbindung zu den tatsächlichen Ereignissen unklar bleibt.

Wie können wir uns diesem ungewollten Erbe annehmen? Viele Nachkommen der Kriegsgeneration kennen diese undefinierbaren Ängste, die Kälte in den Kinderzimmern und die Taubheitsgefühle. In meiner vom Bezirksamt Harburg geförderten Gruppe Heimat und Biografie – Begegnungen mit Pinsel und Farbe im Stadtteilhaus Neuwiedenthal begegnen wir diesen Themen künstlerisch. Künstlerische Prozesse helfen, dem Unsagbaren eine Gestalt zu geben, intuitiv, tastend, überraschend. Die Bildsprache berührt Ebenen, die dem Denken verborgen bleiben. Sie verbindet Zeiten, Gefühle und Geschichten zu einem neuen Ganzen. So kann sich ein stilles Wissen formen. Ein Wissen, das nicht erklärt, sondern verbindet. Kreativität wird zum Ort des Erinnerns, zum Raum für Wandlung. Manchmal genügt ein Satz, ein Bild, ein Klang, um die erstarrte Zeit wieder in Bewegung zu bringen. So wird ein Bild, eine Collage zu einem Ort der Erinnerung und zugleich zu einem Raum der Verwandlung. Die abgebildete Collage mit einem Foto meiner Großmutter habe ich im Rahmen meiner Biografiearbeit gestaltet. Collagearbeit schafft intuitiv den Zugang zu unbewussten Themen und Geheimnissen. Probiere es mal aus!
Mehr zu diesem Thema erfährst du auch in meinem Buch:

Ulrike Hinrichs: Lebendig begraben: Guillain Barré Syndrom
Krankheit, Trauma und die Narben der Geschichte
ISBN Softcover: 978-3-99139-739-7
EUR 18,00
Auch als e-book erhältlich
Ulrike Hinrichs ist Gesprächstherapeutin, Kunsttherapeutin (M.A), Anwenderin Positive Psychologie und Autorin www.ulrikehinrichs.com
