Die Narben der Geschichte – vererbte Traumata

Bild und Gestaltung: Ralf Schwinge – Text: Ulrike Hinrichs

Wir haben von unseren Vorfahren nicht nur die Gene geerbt, sondern auch ihre Lebensgeschichten von Gewalt, Mangel und ewigen Kämpfen. Die Folgen traumatischer Erfahrungen werden weitergegeben, wenn sie nicht verarbeitet werden können.

von Ulrike Hinrichs

Wenn Eltern ihre eigenen traumatischen Erlebnisse nicht integrieren können, bleibt die Belastung nicht nur für sie selbst bestehen, sondern wirkt sich auch auf ihre Nachkommen aus. Diese Einflüsse zeigen sich beispielsweise in Träumen, Glaubenssätzen, dem Selbstbild, emotionalen Erleben und unbewussten Verhaltensweisen der nächsten Generation. Vor allem kollektive Krisen wie Kriege und Terror wirken auf ganze Gesellschaften ein. Viele dieser Ängste werden durch die aktuellen Krisen wiederbelebt.

Die Folgen der menschenverachtenden Nazi-Diktatur sind bis heute nicht überwunden. Nach dem Zweiten Weltkrieg zeigte sich in Deutschland eine kollektive Erstarrung, Ausdruck von Ohnmacht, Schuld und Scham. Viele Kriegskinder und Kriegsenkel kennen die emotionale Taubheit und Sprachlosigkeit der Kriegsgeneration. Sie spürten diese undefinierbare Melange aus Abscheu, Scham und Angst in der Nachkriegsgesellschaft, die sich wie ein schleichendes Gift ausgebreitet hatte. In den Wohnzimmern herrschte eine emotionale Kälte, die alle Gefühle gefrieren ließ. Die Kinder wurden materiell versorgt, sind aber emotional verhungert.

Traumatisierten Eltern ist es unmöglich die Schwäche und auch die Stärke ihrer Kinder auszuhalten. Traumatisierte Familienmitglieder spüren ihre eigene Verletzlichkeit, wenn sie diese bei ihren Kindern wahrnehmen. Daher müssen sie dieses Gefühl unbedingt abblocken und bei ihren Kindern ablehnen und bekämpfen. Es herrscht in traumatisierten Familien daher oft ein permanent abwertender Grundton, nie ist etwas richtig oder gut genug. Die Kinder lernen, dass sie weder weinen noch sich feiern und loben dürfen.

Die Leerstellen, die Kinder der nachfolgenden Generationen traumatisierter Eltern erleben, haben Auswirkungen auf ihre Selbstverständnis und ihr Selbstbewusstsein. Es gibt zudem auch epigenetische Veränderungen, die durch Traumata entstehen und die sich weitervererben.

Mehr Hintergrundwissen zu den Folgen traumatischer Lebenserfahrungen findest du in meinem Beitrag auf Tiefgang Dein inneres Kind künstlerisch erwecken

Die Weitergabe von Traumata erfolgt auf verschiedenen Ebenen,

  • der Epigenetik (Vererbung der Stressregulation),
  • der Weitergabe von Stress von der Mutter (bzw. anderer Bezugspersonen im Umfeld) auf das Kind,
  • der fehlenden emotionalen Verfügbarkeit der Bezugsperson und
  • über Glaubenssätze und die Erziehung.

Die Auswirkungen der transgenerationalen Traumaweitergabe können sich auf vielschichtige Weise äußern. Neben Ängsten, depressiven Verstimmungen oder chronischer Anspannung kann es auch zu tief verankerten Überzeugungen und Verhaltensmustern kommen, die das eigene Leben unbewusst steuern. Bindungsmuster, Selbstwertgefühl und sogar körperliche Symptome können von übernommenen Traumata beeinflusst sein. Häufig zeigen sich Schwierigkeiten in der Abgrenzung oder das Gefühl, eine nicht greifbare Last zu tragen.

Da das Trauma nicht unmittelbar erlebt, sondern weitergegeben wurde, ist es oft viel schwerer zu greifen und zu begreifen als eine unmittelbar selbst erlebte Traumaerfahrung. Es ist eine kleinteilige Detektivarbeit, der Traumaweitergabe auf der Spur zu bleiben. Denn viele Themen sind hinter einem großen Schweigen verborgen. Familientabus und Sprachlosigkeit verhindern oder boykottieren die Aufklärung.

Die Kunst als Ausdrucksform kann helfen, dem Trauma näher zu kommen, um es zu integrieren. Denn mit der Kunst docken wir an unser unbewusstes Wissen und verborgene Gefühle an. In meinem Sachbuch Lebendig begraben beschreibe ich die Folgen transgenerationaler Erfahrungen anhand meiner eigenen Geschichte. Als Jugendliche erkrankte ich am Guillain-Barré-Syndrom. Innerhalb weniger Tage war ich vollständig gelähmt, ein körperlicher Shutdown als Rückzug aus einer emotional eiskalten Welt. Diese Erfahrung steht exemplarisch für das Erleben vieler, eingebettet in eine Atmosphäre kollektiver Kälte in der Nachkriegszeit. Ich verbinde biografische, psychologische und medizinische Perspektiven mit einem mythologischen Blick auf Krankheit und zeige, wie verborgene Weisheiten heilende Impulse setzen können.

„Es gibt keine größere Qual, als eine unerzählte Geschichte in Dir zu tragen.“

Maya Angelou

Indem wir unsere eigenen Geschichten erzählen, verwandeln wir Blut in Leben, Ohnmacht in Ausdruck und Schweigen in Stimme. Vielleicht fragst du dich, welche Geschichte in dir endlich erzählt werden möchte. Fange mit diesen Impulsfragen an, dem auf die Spur zu kommen.

Impulsfragen an dich:

  • Welche Stimme in dir wurde zu früh leise?
  • Gibt es ein Schweigen, das sich zwischen deine Worte gelegt hat?
  • Welche Gefühle trägst du, die vielleicht nicht dir gehören?
  • Was durfte in deiner Familie nicht gefühlt oder gezeigt werden?
  • Gibt es in deiner Familie Themen, über die nicht gesprochen wurde oder wird?
  • Welche Träume oder Lebenswünsche scheinst du unbewusst für jemand anderen zu tragen?
  • Welche wiederkehrenden Muster oder Überzeugungen prägen dein Leben?
  • Welche Erfahrungen deiner Eltern oder Großeltern könnten in deinem Leben noch nachwirken?
  • Was und wen schützt du, wenn du dich zurückhältst?
  • Spürst du manchmal Gefühle, deren Ursprung du dir nicht erklären kannst?
  • Hast du ein „fremdes“ Gefühl von Schuld, Angst oder Scham in dir, das nicht zu deinen eigenen Erfahrungen passt?
  • Wie zeigt sich in deinem Körper, was deine Seele vielleicht verschweigt?
  • Welche Ausdrucksform – Schreiben, Malen, Musik, – könnte dir helfen, Unaussprechliches sichtbar zu machen?

Ulrike Hinrichs – Lebendig begraben: Guillain Barré Syndrom

Krankheit, Trauma und die Narben der Geschichte

 ISBN Softcover: 978-3-99139-739-7

EUR 18,00 EUR

Überall im Buchhandel; auch als ebook erhältlich

 

 

 

Ulrike Hinrichs ist Gesprächstherapeutin, Kunsttherapeutin (M.A), Traumatherapeutin, Anwenderin Positive Psychologie und Autorin www.ulrikehinrichs.com

 

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