Es gibt Bilder, die wirken wie ein Blick in das Unsagbare. Die Kunst als Ausdrucksform kann helfen, dem Trauma näher zu kommen, um es zu integrieren. Denn mit der Kunst docken wir an unser unbewusstes Wissen und verborgene Gefühle an.
von Ulrike Hinrichs
„Traumatische Grenzerfahrungen öffnen Erlebnis- und Bewusstseinsbereiche, die das alltägliche Tageswachbewusstsein sprengen und die Seele in eine ›Todeslandschaft‹ verwandeln können“, so die Psychoanalytikerin Ursula Wirtz in ihrem Buch Stirb und Werde. Die Wandlungskraft traumatischer Erfahrungen (2014, S. 25).
Trauma trägt die Erfahrung von Todesnähe in sich. Der Körper erstarrt, die Psyche zieht sich zurück, das Leben ist oder scheint in Gefahr. Wer traumatische Erfahrungen durchmacht, kennt dieses Gefühl: die eigene Existenz schwebt am Abgrund. Diese Todesnähe ist unsagbar bedrohlich, zugleich öffnet sie den Blick für die existenziellen Fragen des Lebens. Wer dem Tod begegnet, weiß um die Kostbarkeit des Lebens.
Kunst als Brücke zum Unsagbaren
Die Kunst eröffnet einen Weg, das Unaussprechliche zu berühren, ohne überwältigt zu werden. Sie spricht in Symbolen und Archetypen, in Farben und Formen. Sie geht in Resonanz mit unserem unbewussten Wissen, ruft Gefühle wach, die lange verborgen waren. Sie ermöglicht Ausdruck jenseits rationaler Sprache. So entsteht ein geschützter Raum, in dem wir uns dem Trauma nähern und es Schritt für Schritt integrieren können.
Um das an einem Beispiel festzumachen: Als Jugendliche erkrankte ich am Guillain-Barré-Syndrom. Die Autoimmunerkrankung brachte mich in diese Todesnähe. Damals hatte ich keinen Zugang zu meinen Gefühlen. Ich war völlig dissoziiert, wie von mir selbst und der Welt abgeschnitten. Immer wieder brachen und brechen bis heute Erinnerungen in Form von Flashbacks und Intrusionen auf, die ich jedoch lange Zeit nicht einordnen konnte.
Erst Jahrzehnte nach meiner Erkrankung begann ich, mich dem Schrecken zu stellen. Mehr dazu erfährst du auch in meinem Sachbuch Lebendig begraben: Guillain-Barré-Syndrom.
In dieser Zeit entstand das im Header abgebildete Werk „Der Tod und ich“, das dieses Unsagbare fühlbar macht. Das Bild wirkt, als ob der Tod selbst oder die Erfahrung des Todes sichtbar wird. Es zeigt, dass im Körper Erinnerungen an Tod, Verlust oder Schmerz gespeichert sind und im Ausdruck Gestalt annehmen.
Mehr Hintergründe zu Trauma und Kunst auch auf Tiefgang:
Vom Trauma zum Wachstum
So schrecklich Todesnähe und Trauma sind, in ihrem Schatten liegt auch ein Keim von Wandlung. In vielen Mythen ist der Tod nicht das Ende, sondern die Schwelle zu etwas Neuem. Der Phönix erhebt sich aus der Asche, Persephone steigt aus der Unterwelt zurück ans Licht, Initiationsriten führen durch Dunkelheit und Gefahr in eine neue Lebensphase. Auch in unserer persönlichen Geschichte kann ein solcher Wandel geschehen. Aus der Begegnung mit dem Schmerz entsteht eine tiefere Lebendigkeit, eine andere Form von Kraft.
Siehe auf Tiefgang:
Erzählen als Heilung
Indem wir unsere eigenen Geschichten erzählen, verwandeln wir Blut in Leben, Ohnmacht in Ausdruck und Schweigen in Stimme. Jedes Bild, jedes Wort, jedes Symbol kann zu einem Schritt auf diesem Weg werden. Es geht nicht darum, das Trauma ungeschehen zu machen, sondern es in unser Leben zu verweben. Denn in der Annäherung an das Unsagbare liegt die Chance, nicht nur die Schatten, sondern auch das Licht in uns neu zu entdecken.
Welche Geschichte in dir wartet darauf, erzählt zu werden?

Ulrike Hinrichs: Lebendig begraben: Guillain Barré Syndrom
Krankheit, Trauma und die Narben der Geschichte
ISBN Softcover: 978-3-99139-739-7
EUR 18,00 EUR
Auch als ebook erhältlich
Ulrike Hinrichs ist Gesprächstherapeutin, Kunsttherapeutin (M.A), Traumatherapeutin, Anwenderin Positive Psychologie und Autorin www.ulrikehinrichs.com
