Künstlergruppe für Geflüchtete:

Trauma und Kunst

Geflüchtete sind nach ihren Erlebnissen oft traumatisiert und entwurzelt. Sie sind sprachlos im doppelten Sinne des Wortes. Zum einen sprechen sie unsere Sprache nicht, zum anderen haben sie keine Worte für das Erlebte. Die Kunst hilft, um traumatische Erlebnisse zu verarbeiten.

von Ulrike Hinrichs

„Hirnscan-Studien mit Menschen, die sich traumatische Geschehnisse ins Gedächtnis rufen, belegen eindeutig, dass traumatische Erinnerungen ›sprachlosen Schrecken‹ und ›Erleben jenseits der Worte‹ evozieren, nicht aber ein klar umrissenes Narrativ, das verbalisiert werden kann“, so die US-amerikanische Psychologin Fisher (S. 73). Jeder, der selbst ein Trauma erlebt hat, weiß wie schwer es ist, die Geschehnisse in Worte zu fassen. Bei traumatischen Erlebnissen schalten wir automatisch auf unsern ältesten Gehirnteil um, der bei außergewöhnlichen Bedrohungen mit Flucht, Angriff oder Erstarrung reagiert. Die Erschütterung ist im Körpergedächtnis gespeichert. Traumatische Erlebnisse hinterlassen sogar Spuren im Erbgut, die auf die nachfolgenden Generationen weitergegeben werden, wie die Epigenetik herausgefunden hat. „Mittlerweile kann die Genforschung detailliert belegen, dass sich stark biografische Eindrücke tatsächlich auf der genetischen Matrix einprägen und als Information in jeder Zelle vorhanden sind. Besonders Stress und schicksalshafte Erlebnisse verändern das Erbgut. Solch epigenetische Prozesse werden körperlich spürbar als funktionelle, dann als organische sowie psychische Funktionsstörungen“ (Baring, S. 70). Die „narrative Vergegenwärtigung“ führe zur Hemmung des kortikalen Bereich des Großhirns und damit auch des Sprachzentrums, was die Betroffenen im wahrsten Sinne des Wortes „sprachlos“ mache, so Fisher (S. 73).

Sprachloses sichtbar machen

Ich leite seit vielen Jahren eine Künstlergruppe für Geflüchtete, in der mir die Sprachlosigkeit und Hilflosigkeit der Betroffenen immer wieder begegnet. Gleichzeitig erlebe ich, wie der künstlerische Ausdruck unterstützend und stabilisierend auf die Menschen wirkt. Mit der Kunst als Ausdrucksform können wir Sprachloses sichtbar machen, Stress abbauen und die Selbstwirksamkeit stärken. Die Kunst hilft, das auszudrücken, was wir jenseits der Wortsprache wahrnehmen können.

Kunst macht stark

Zu unserer Selbstwahrnehmung gehört, dass wir uns zutrauen, schwierige Situationen zu meistern und uns nicht ohnmächtig ausgeliefert fühlen. Selbstwirksamkeit bedeutet, dass man daran glaubt, gezielt Einfluss auf die Dinge und die Welt nehmen zu können. Man ist nicht Opfer der Umstände, sondern kann aktiv werden und handeln. Genau daran fehlt es den Geflüchteten, wenn sie in ein fremdes Land mit einer fremden Sprache, Kultur und Regeln kommen. Zudem sind sie im Überlebensmodus, nachdem sie oft eine monatelange Flucht hinter sich haben. Selbst wenn sie schon eine Weile im Land ansässig sind, hält dieser Schockzustand an. Traumata verschwinden nicht so einfach wieder.

Niedrigschwellige künstlerische Angebote helfen, das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu stärken. Ich erlebe immer wieder in meiner Gruppe für Geflüchtete, dass Betroffene an den eigenen künstlerischen Fähigkeiten zunächst zweifeln. Wenn am Ende der Stunde ein wunderbares Kunstwerk entstanden ist, zeigen sie mit ihrem leisen Lächeln einen kleinen Moment des Glücks.

Kunst als Zeichen von Gesundheit

Donald Winnicott, ein Kinderarzt und Psychoanalytiker, konstatiert, dass Kunst als ein Zeichen von Gesundheit, im Sinne von Autonomie und Selbstbestimmung, verstanden werden kann. Nur durch ein gesundes Maß an Kreativität kann man eigene Entscheidungen treffen und Autonomie erlangen. Fehlende Kreativität führe zu einer gewissen Übergefügigkeit, die oftmals eine „krankhafte Basis für das Leben darstellt“, so Winnicott (S. 73). Jedes gemalte Bild schenkt Kraft. Auch die Gemeinschaft von Betroffenen, die das Schicksal von Flucht und Heimatverlust teilen, gibt ein Gefühl von Stabilität.

Siehe zum Thema auch: Kunst gibt mir Freiheit

 

Ulrike Hinrichs ist Gesprächstherapeutin, Kunsttherapeutin (M.A und Autorin zahlreicher Sachbücher. Sie leitet die Künstlergruppe für Geflüchtete, die vom Bezirksamt Harburg unterstützt wird. www.lösungskunst.com

 

Literatur

Baring, Gabriele (2011). Die geheimen Ängste der Deutschen. Berlin, München: Scorpio.

Fisher, Janina (2019). Die Arbeit mit Selbstanteilen in der Traumatherapie. Paderborn: Junfermann.

Winnicott, Donald, Erdmann, Michael.  (2018). Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag.

 

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