Am Anfang war das Ei – Künstlerische Biografiearbeit

Künstlerbücher – Ulrike Hinrichs

Unserer biografischen Vergangenheit zu begegnen, ist nicht immer ganz einfach. Die Erinnerungen sind verschwunden, vernebelt oder mit Anekdoten und Geschichten aus der Familie übermalt. Mit Pinsel, Farbe, Stift und Papier können wir unsere Biografie beleuchten.

Von Ulrike Hinrichs

Stephen King schreibt in seiner Autobiografie: „Meine Jugend ähnelt eher einer vernebelten Landschaft, in der gelegentlich Erinnerungen wie vereinzelte Bäume auftauchen, diese Art von Bäumen, die aussehen, als wollten sie einen packen und fressen.“ (Stephen King (2000, S. 19/20). Vielleicht kennst du das auch. Es gibt Schmerzhaftes, an das wir uns gar nicht erinnern wollen, oder auch Familiengeheimnisse und Tabus, an die wir uns nicht erinnern sollen. Gerade die Generation der Kriegskinder und Kriegsenkel kennen das kollektive Schweigen, das sich in der Nachkriegszeit wie eine dunkle Giftwolke ausbreitete und bis heute nachwirkt.

Bei traumatischen Erfahrungen sorgt sogar unser Nervensystem dafür, dass wir schlimme Erlebnisse abspalten und nicht erinnern, um zu überleben. Mittlerweile ist in der Forschung nachgewiesen, dass Traumata sogar vererbt werden können. Die Weitergabe von Traumata erfolgt auf drei Ebenen, der Epigenetik (Vererbung der Stressregulation), der Weitergabe von Stress von der Mutter (bzw. anderer Bezugspersonen) auf das Kind sowie über Glaubenssätze. Traumatische Erfahrungen müssen psychotherapeutisch aufgearbeitet werden. Ich erwähne sie im Zusammenhang mit der Biografiearbeit, um ein Verständnis dafür zu schaffen, warum es bei solchen Erfahrungen gar nicht möglich ist, sie wirklich zu erinnern. Trauma-Erinnerungen sind fragmentiert, zeitlos und nicht integriert. Es ist ein verwirrendes Sammelsurium von unabgeschlossenen neurobiologischen Reaktionen und Rohdaten, wie etwa überwältigende Gefühle, autonome Erregungen, Muskel- und Körpererinnerungen oder intrusive Bilder und Geräusche.

Der innere Drang zu verstehen und unsere Wurzeln zu ergründen

Gleichzeitig können wir auch eine positive Kehrseite erkennen, das posttraumatische Wachstum und den inneren Drang, unsere Geschichte und auch unsere Wunden zu verstehen und unsere Wurzeln zu ergründen. In uns gibt es einen Impuls, dunkle Löcher und Leerstellen zu erhellen. Hinter unserer Angst steckt ein enormes Wachstumspotential. Bis hinunter auf die Zellebene sind wir entweder im Abwehr- oder im Wachstumsmodus. Wenn wir versuchen unverletzlich zu werden, hören wir auf, das Leben als unendliche Möglichkeiten, uns selbst als grenzenloses Potential und die Welt als einladende Arena für unsere Selbstentfaltung zu begreifen, so sinngemäß Dr. Gabor Maté in seinem Buch „Der Mythos des Normalen“ (2023, S. 224).

Der künstlerische Ausdruck kann uns unterstützend helfen. Das Wortlose und Unausgesprochene will gesehen werden und ans Licht kommen. Gerade für den Blick zurück in die Kindheit hilft uns der künstlerische Ausdruck, um an die sprachlose Zeit anzuknüpfen. Wenn ich von Kunst spreche, dann meine ich den authentischen Ausdruck jenseits der Bewertung von Kunst. Ich möchte dir dazu ein praktisches Beispiel geben: Ich nenne die Übung „Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit“. Für Menschen, die schlimme Erfahrungen in ihre Kindheit gemacht haben, mag das erst einmal zynisch klingen. Hier geht es aber nicht darum, die Kindheitserfahrungen zu relativieren, sondern heute im Hier und Jetzt für dein verletztes inneres Kind bzw. die inneren Kindern (denn meistens gibt es mehrere verletzte Anteile) zu sorgen. Dein inneres Kind hat einige Krisen bewältigt. Das verletzte innere Kind trägt deine negativen Erfahrungen und Glaubenssätze mit sich herum. Auch belastende Gefühle wie unverarbeitete Trauer oder Wut zeigen sich durch das innere Kind. Das verletzte Kind sucht zeitlebens nach Heilung, Nestwärme und Liebe. Du kannst für das innere Kind heute selbst eine liebevolle Mutter oder ein liebender Vater sein. Das kann man auch etwas weniger pathetisch Selbstfürsorge und Selbstmitgefühl nennen, woran es vielen Menschen fehlt. Wir haben die alten Muster und Glaubenssätze unserer Eltern übernommen und beschimpfen und kritisieren uns selbst.

Kreative Umsetzung, so geht es!

Beschäftige dich mit deinem inneren Kind. Such dir dazu ein Thema, welches dich im Zusammenhang mit deiner Kindheit belastet. Das kann etwa ein wiederkehrendes Gefühl sein, wie etwa Wut oder Angst oder auch ein konkretes Familienthema wie der Tod eines Elternteils oder eine besondere Familiengeschichte. Bei den hier abgebildeten Werken aus meiner Reihe Künstlerbücher war mein Thema „transgenerationale Traumaweitergabe in meiner Familie“. Die Kunst besteht nun darin, dass du diese thematische Überschrift innerlich gleich wieder loslässt, damit deine kreative Seite in dir genug Freiraum hat. Du musst dich beim schöpferischen Prozess nicht sklavisch an das Thema halten. Hast du es nämlich erst einmal benannt, dann ist es sowieso da und es wird das entstehen was gesehen werden will.

Anschließend suchst du dir intuitiv ein Kinderfoto von dir, um es für deine kreative Arbeit zu nutzen. Wenn du das Original nicht verwerten möchtest, dann kopiere dir das Bild oder drucke es aus, wie ich es in den hier dargestellten Collagen gemacht habe. Gestalte nun ein Bild, in das du dein Kindheitsfoto integrierst. Du kannst eine Collage gestalten, in die du neben deinem Foto auch Bild- und Textelemente aus alten Zeitungen einarbeitest. Und dann lass dich überraschen, was entsteht. Wenn du magst, dann schreibe anschließend einen Brief an das Kind, dein jüngeres Selbst, das du in dein Kunstwerk eingearbeitet hast. Hast es eine Botschaft für dich? Es könnte ein Satz oder ein Wort sein.

Wenn du neugierig geworden bist, dann schau in mein Workshop-Angebot Atelier für Biografiearbeit. Für Kunst- und Psychotherapeut:innen weise ich auch auf meine Weiterbildung für am Campus Naturalis in Hamburg und online hin.

Ulrike Hinrichs ist Gesprächstherapeutin, Kunsttherapeutin (M.A) und Autorin zahlreicher Sachbücher. www.lösungskunst.com

Related Post

Druckansicht