SuedKulturler gegen die kulturelle Abstinenz (12)

Swantje Bernhagen – Tochter und Mutter

Foto: Małgorzata Smożewska / Pixabay

von Swantje Bernhagen

Jedesmal, wenn ich mich verabschiedet habe, sieht sie mir nach, wie ich den langen Flur entlanggehe, rechts und links Türen ihrer Altersgenossen. Ich drehe mich alle paar Schritte um und winke ihr zu, sehe sie in ihrer Tür stehen, auch winkend. Sehr klein steht sie da und obwohl ich froh bin, zu gehen, befällt mich immer auch das Gefühl der Schuld, sie dort allein zu lassen.

Meine Mutter ist fast 91 und lebt seit 3 Jahren, dem Tod meines Vaters, in einer Seniorenanlage in meiner Nähe. Eine schwere Zeit war das, noch nie im Leben hatte meine Mutter alleine gelebt und nun musste sie Haus und Freunde und alles Bekannte hinter sich lassen, in einer Zeit der großen Trauer um den Verlust ihres Ehemanns. Gerade hatte sie sich eingelebt und wieder Freude am Leben, starb meine sehr viel jüngere Schwester an plötzlicher schwerer Krankheit. Ich habe allen Grund, nachsichtig mit ihr zu sein und ihr das Leben zu erleichtern – die Trauer um ihre Tochter, die vor ihr gestorben ist, ist allgegenwärtig.

Allerdings: auch mir fehlen mein Vater und meine Schwester…aber ich habe ja meine Familie, meinen Ehemann und Kinder und Enkel. Und ich bin die Tochter.

Gesundheitlich geht es meiner Mutter gut, sie hat Mühe mit ihrem Rücken und ihre Statur wird von Jahr zu Jahr gebeugter und kleiner – ihrem Elan tut das keinen Abbruch. In ihrer kleinen Wohnung ist sie immer beschäftigt. Gerne fertigt sie to do Listen an: Gardinen waschen, Eckschrank säubern, Bett beziehen, etwas in den Keller bringen oder holen, Überweisungen erledigen usw. .

Diese Listen sind nicht etwa für sie selbst – nein, sie erwarten mich bei meinen regelmäßigen wöchentlichen Besuchen. Manchmal empfinde ich sie als Auftragslisten, besonders an Tagen, an denen ich eigentlich noch viele eigene Termine habe. An entspannten Tagen nehme ich sie hin, als Möglichkeit zu helfen und als Merkstütze meiner Mutter. Betten beziehen … nun, das ist ja auch in 10 Minuten erledigt … denke ich. Ich bin naiv. Zuerst wird – jedesmal! – die Matratze gewendet: Kopf -und Fußteil, oben und unten. Dann werden zwei Laken aufgezogen, die Kopfkissen in die Hüllen gestopft und die Bettdecke bezogen UND DANN wird in jede Ecke mit einer großen Sicherheitsnadel das Inlett mit dem Bezug zusammengesteckt, damit nichts verrutscht … aber das darf ich nicht machen, weil das auf ganz besondere Art gemacht werden muss, wozu ich offensichtlich nicht in der Lage bin. Sie klettert dazu auf ihr Bett und kniend werden dann ungefähr 10 kleine Kissen und eine zusammengerollte Wolldecke in mir nicht erkennbarer festgelegten Reihenfolge in den kleinen Zwischenraum von Matratze und Wand gestopft. „Warum machst du das eigentlich?“ „Weil etwas dazwischen runterfallen könnte“, meint sie, was einleuchtend ist, denn das könnte sie bestimmt

nicht wieder herausfischen. Aber: „Was hast du denn im Bett, was das sein könnte?“ Ich weiß, dass meine Mutter weder im Bett liest, noch Kaffee trinkt oder telefoniert. Also was sollte das sein? Verblüffung: es könnten die drei kleinen Bilder von der Wand fallen und zwischen Bett und Wand verschwinden…Voila! Meine Mutter besitzt ein Hörgerät und hat zu diesem Hörgerät keine unproblematische Beziehung. Entgegen dem Rat des Akustikers, das Gerät jeden Tag zu tragen, schont sie es. Alle Vergleiche mit zum Beispiel einer Brille, die man auch jeden Tag tragen müsse, damit sich das Gehirn daran gewöhnt, wischt sie beiseite. Sie ist der Überzeugung, dass es doch nichts zu hören gäbe, allein in ihrem Zimmer. Und so dröhnt das Radio wie in meinen besten Jugendzeiten, sie hört kein Telefon, kein Klingeln oder Vogelgezwitscher… „Das Hörgerät trägt hier keiner“, trumpft sie auf, wenn ich mich beschwere, dass ich schreien muss, um mich verständlich zu machen.

Vier Damen ohne Hörgeräte beim Mittagessen! Meine Mutter sitzt auf einem dicken Polsterkissen, damit sie auf den Teller gucken kann. An ihr Trinkglas reicht sie kaum heran. Die anderen Frauen sind stämmig und nehmen jede auf ihrer Seite des kleinen quadratischen Tisches den ganzen Platz ein. Ihre Stimmen sind kräftig und gewohnt, gehört zu werden. „Das Essen ist ja wieder mal total versalzen“. „Welcher Tag ist heute, Freitag?“ „Freitag gibt es Fisch“. „Mein Mann ist zur See gefahren, auf einem Tanker“. „Waren Sie gestern mit bei der Ausfahrt?“ „Wie? Was haben Sie gesagt? Sie müssen lauter sprechen!“ „Meine Tochter kommt Morgen wieder.“

Von Computern hält meine Mutter nicht besonders viel. „Ach wie gut, dass du da bist! Wenn ich Fotos aus dem Mailprogramm öffne, dann kann ich sie nicht vergrößern….“ Und dann verschwanden mein Vater und ich in seinem Zimmer und probierten aus. „Nun lasst doch mal den blöden Computer“, steckte meine Mutter nach kurzer Zeit ihren Kopf herein, nicht nur einmal. Nicht ganz uneigennützig und damit sie ihn besser verstehen könnte, schaffte mein Vater für sie einen eigenen PC an und meine Mutter begann immerhin, selbst Mails zu schreiben. Sie strotzen vor Fehlern. Was sie doch bei ihren Enkeln scharf angemahnt hatte in ihren Briefen – vernünftige Rechtschreibung – ist völlig verloren gegangen. Oft weiß sie nicht mehr, wie man ein neues Dokument öffnet und drückt wahllos irgendwelche Tasten. Manchmal geht dann eine Sache, dafür sind andere Mails gelöscht, verschwunden oder mehrfach an dieselbe Person geschickt. Sie schimpft auf ihr Gerät, das ja auch veraltet sei … und wir? Wir scheuen uns, ein anderes zu besorgen, denn kleine Veränderungen bringen sie in dieser Sache komplett durcheinander. Auch mit dem Drucker lebt sie auf Kriegsfuß: zu Weihnachten druckte sie 50 Blätter mit großer Weihnachtspyramide aus … die Patrone hielt zu ihrem Ärger nur einen Tag … und manchmal ruft sie ärgerlich an, der Scanner gehe nicht … ja, weil er nicht angeschaltet wurde.

Trotzdem wollen wir sie besser teilhaben lassen am medialen Familienleben. Die Enkel befinden, dass ein Tablet mit Whats App das Mittel der Wahl sei. Die vielen Fotos und Videos der Enkel und Urenkel werden ihr sicher gefallen. Ich übernehme das Überbringen der frohen Botschaft und gleichzeitige Vertraut- Machen mit dieser Idee. „Ach, so ein Wischding“, sagt sie, „nein, das will ich nicht“. „Das heißt Smartphone“, erkläre ich – wieso nennt sie eigentlich stur die Geräte nie beim richtigen Namen? Ich erkläre also, dass der Telefonempfang an ihrem Wohnort gleich Null ist, die Schrift auf einem Smartphone selbst für mich viel zu klein sei … „Aber du brauchst doch jetzt deinen Laptop nicht mehr, seit du nicht mehr arbeitest …“, wirft sie da ein, inmitten meines langatmigen Vortrags. Ich fühle mich wie ein Luftballon, dem die Luft entweicht und denke: nicht viel reden, machen! Wir bereiten das Tablet vor und gut! Aber nun soll meine Mutter den W-LAN Code und ihre Handynummer und die Handynummer ihrer Freundin heraussuchen – zurzeit ist der direkte Kontakt wegen Corona ja unterbunden und alles soll fix und fertig sein, sodass das Tablet mit Anleitung übergeben werden kann. Zweimal ruft sie mich an, um zu fragen, ob sie ALLE Telefonnummern aufschreiben soll… und sie tut mir Leid; ich sehe sie vor mir mit ihrem kleinen Telefonbüchlein, voller Adressen, auch durchgestrichene sind dabei, wie sie sich an die Arbeit machen will. Außer der Familie hat nur eine Person aus ihrem Bekanntenkreis ein Smartphone, es ist EINE Nummer, die sie abschreiben muss, was verlange ich von ihr, was sie gar nicht verstehen kann? Mein Mitleid verwandelt sich in Scham, wenn sie allerdings rigoros von „der Putze“ spricht, wenn sie von oben herab zu verstehen gibt, dass sie etwas Besonderes ist. Mein Vater war Mitglied der Rotarier „ Was, Frauen dürfen nicht Mitglied sein? Und da gehst du etwa hin?“ Er war angesehen, ausgezeichnet mit Ehrennadeln. Sie war jemand, seine Frau, die selbstverständlich Hochachtung einfordert. In der Seniorenresidenz ist sie nun Frau XY, keiner weiß von Rotary und Nadeln, Urteile muss sie nun selbst fällen, ohne einen Kompass, sie weiß nicht, wer zur „Gesellschaft“ gehört. Sie war ein Leben lang Ehefrau ohne eigene Meinung, Frau an der Seite, ohne Eigenständigkeit, ohne Beruf! Aber sie fügt sich ein. Sie passt sich an. Sie wird zum Kaffeetrinken eingeladen und geht, nach langen Überlegungen, ob sie den Kontakt wagen kann, hin. Der Tisch ist mit gutem Geschirr (ob sie den Teller umgedreht hat und auf den Stempel geguckt hat?), auf altem, bestickten Leinentischtuch gedeckt. Sie erzählt mir davon mit Begeisterung und es wird deutlich, dass jene Frau an

Bedeutung gewonnen hat. So ordnet sie nicht lange danach an „Ich brauch` von dem Blumengeschirr (von dem sie für fünf Personen Gedecke da hat … aber im Zimmer höchstens für drei Personen Platz) unbedingt drei mehr! Und wo ist eigentlich die Leinentischdecke mit Stickerei am Rand? Ich kann ja hier niemanden einladen, hier benutzt man die alten Schätze.“ Ich erfülle die Rückführung der Dinge, die ihr offensichtlich jetzt wichtig sind. Und ich hadere damit, dass sie nicht einfach einlädt, egal welches Geschirr sie hat und welche Tischdecke, ich hadere damit, dass sie alles, was sie tut, misst an dem, was sie meint, tun zu sollen. Ich hätte so gerne eine selbstbewusste Mutter!

Sie kleidet sich nun anders: alle in der Seniorenresidenz haben wattierte Jacken und so gibt sie keine Ruhe, bis ich mit ihr eine entsprechende Jacke einkaufe. Sie nennt sie „meine Uniform“ und ich kann über ihren Humor lächeln. Auch uralter Schmuck muss herausgesucht werden, weil „man“ das „hier“ trägt. Ja, sie ist angekommen. Mit Verwunderung und Hochachtung berichtet sie vom Besuch eines ihrer Enkelsöhne, gerade Vater geworden, zusammen mit seinem Bruder und dem Baby. „Aber sie haben doch eine lange Fahrt, das Baby muss doch auch mal gewickelt werden“, überlegt sie allen Ernstes. Um dann später entzückt und überrascht zu schwärmen: „Denk mal, sie haben die Kleine gewickelt und gefüttert und sie war so zufrieden! Die beiden Jungs! Dass sie so etwas können!“, und sie verlor sich endlosen in Erzählungen über diesen historischen Besuch. Die Enkeltöchter, die Berufe und Kinder haben … geschenkt. Beruf, klar, gute Ausbildung ist wichtig, aber dann bleibt Frau zuhause. Ohne Applaus. Punkt. Und um mir klarzumachen, wie maßlos ich meine Familie vernachlässige, konnte sie mich harmlos fragen, ob ich schon Weihnachtskekse ausgestochen habe …. inmitten meines Stöhnens über Prüfungen, Konferenzen und Zeitmangel.

Wir haben auch entspannte Tage, an denen wir zusammensitzen und Kaffee trinken und die Gespräche dahinplätschern. “Ach, es ist gut, dass du nicht mehr arbeitest, das ist ja auch nichts, du hast ja genug mit der Familie zu tun“, kann sie dann in meine Entspannung hinein seufzen. Ich kenne das nun schon so lange, doch immer wieder falle ich darauf rein und muss dem inneren Zwang nachgeben zu widersprechen und zu betonen, dass ich meine Arbeit mochte und nun, nach 6 Kindern und bald 10 Enkeln und ihr (das denke ich nur)glücklich bin, Zeit für mich zu haben, für meine Angelegenheiten – ja, auch für Familie, aber eben nicht nur. Da hört sie weg, Frau ist Frau und die ist eben von ihrem Ursprung Mutter und Tochter. Vielleicht ist es nur eine Feststellung, wenn sie sagt: „Hier (in die Seniorenanlage) kommen immer die Töchter und kümmern sich. Die Söhne wohnen ja auch weit weg und haben zu tun.“ Wie auch ihr Sohn, mein Bruder. Aber für mich klingt es wie ein Auftrag und Provokation und – trotz aller Liebe zu meiner Mutter – wie eine Tür, die ins Schloss fällt.

 

(Swantje Bernhagen ist Mitglied in der Schreibwerkstatt von Kerstin Brockmann bei „Alles wird schön“, Heimfeld)

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