
Es war ein Beben, das durch die ehrwürdigen Gänge der Hamburgischen Staatsoper ging – und doch, für jene, die den Herzschlag dieser kulturellen Institution seit Jahren verfolgen, kam es nicht ganz unerwartet.
Demis Volpi, der als großer Hoffnungsträger nach der Ära John Neumeier angetreten war, verlässt das Hamburg Ballett mit sofortiger Wirkung. Ein jähes Ende nach nur einem halben Jahr im Amt, das Fragen aufwirft, Wunden freilegt und die Debatte um die Zukunft einer der renommiertesten Ballettcompagnien der Welt neu entfacht.
Die Bürde eines großen Erbes
Die Erwartungen an John Neumeiers Nachfolge waren von Anfang an gigantisch. Ein halbes Jahrhundert lang hatte der amerikanische Choreograf das Hamburg Ballett geprägt, es zu Weltruhm geführt und zu einer unverwechselbaren Marke gemacht. Sein Abschied, um einen reibungslosen Übergang zu gewährleisten, wurde sogar um ein Jahr bis Sommer 2024 verlängert. Die Findungskommission, besetzt mit hochrangigen internationalen Expert*innen wie Ted Brandsen oder Brigitte Lefèvre, hatte im Oktober 2022 Demis Volpi als die ideale Wahl präsentiert. Kultursenator Dr. Carsten Brosda äußerte sich damals euphorisch: „Mit Demis Volpi kann die herausragende Geschichte des Hamburg Ballett weitergeschrieben und mit neuen Impulsen in die Zukunft geführt werden.“ Man sprach von einer Verbindung von Tradition und Innovation – Worte, die heute einen bitteren Beigeschmack hinterlassen.
Volpi, der 1985 geboren und in Buenos Aires sowie Stuttgart ausgebildet wurde, kam mit dem Ruf eines international gefeierten Choreografen. Seit August 2020 war er Ballettdirektor und Chefchoreograf des Ballett am Rhein Düsseldorf/Duisburg. Dort hatte er für seine Arbeiten eine große Zahl internationaler Auszeichnungen erhalten, darunter den Konex Award, die Auszeichnung zum „Nachwuchskünstler des Jahres“ der Zeitschrift Opernwelt und den Deutschen Tanzpreis Zukunft. Choreografien wie „Salome“ für das Stuttgarter Ballett oder „Chacona“ zeugten von seinem künstlerischen Talent. Doch die Realität in Hamburg sollte sich als weitaus stürmischer erweisen.
Ein toxisches Klima und der rasche Fall
Schon seit Wochen brodelte es hinter den Kulissen. Gerüchte machten die Runde, Solist*innen kündigten, und es verdichteten sich die Anzeichen für ein „toxisches Arbeitsklima“. Was im Februar 2025 mit einem offenen Brief von 36 der 63 Staatsopern-Tänzer*innen an Kultursenator Brosda begann, mündete nun im Showdown. Die Vorwürfe waren massiv: ein „unfreundlicher, manipulativer und herabsetzender Stil Volpis“, häufige Abwesenheiten und sogar „künstlerische Mängel“. Der Frust saß tief, so tief, dass fünf der elf Ersten Solist*innen, die sonst das Herzstück der Compagnie bilden, zu den Unterzeichner*innen gehörten.
Der Aufsichtsrat der Hamburgischen Staatsoper und Demis Volpi einigten sich auf einen Auflösungsvertrag zum Ende der Spielzeit und eine sofortige Freistellung. Die Kulturbehörde sprach von „einvernehmlich“, doch die scharfen Worte aus der F.A.Z. – „Das Schiff verlässt den sinkenden Kapitän“ – spiegeln die Dramatik der Situation wider. So-Yeon Kim, eine ehemalige Düsseldorfer Ballerina und Mitverfasserin eines Düsseldorfer Solidaritätsschreibens, äußerte sich gegenüber der F.A.Z. erleichtert: „Manche waren der Ansicht, da Volpi nicht körperlich gewalttätig war, müsste man ihn nicht entlassen. Die Wahrheit ist aber, dass viele Tänzerinnen und Theatermitarbeiterinnen unter Volpis Charaktermängeln und Inkompetenz nicht nur gelitten haben, sondern in der Konsequenz ihr Engagement und manche ihre Karriere verloren haben. Sein Verhalten hat das Leben von Tänzer*innen ruiniert.“ Dies zeigt, dass die Probleme nicht neu waren und die Entscheidung in Hamburg in der Ballettwelt genau beobachtet wurde.
Demis Volpis eigene Stellungnahme klingt fast resignativ: „Meine Vision – sowohl in künstlerischer Hinsicht als auch im Hinblick auf eine zeitgemäße Struktur, die offene und verantwortungsvolle Zusammenarbeit innerhalb einer Ballettcompagnie ermöglicht – ließ sich trotz intensiver Bemühungen unter den aktuellen Rahmenbedingungen am Hamburg Ballett nicht weiter verwirklichen.“ Eine diplomatische Umschreibung für eine tiefe Zerrüttung, die offenbar Vision und Realität in dieser etablierten Compagnie kollidieren ließ.
Senator Brosdas Dilemma und die Zukunft
Kultursenator Dr. Carsten Brosda, der einst Volpi so hoffnungsvoll begrüßte, fand sich in einer prekären Lage wieder. Er bedauert, „dass es nicht gelungen ist, eine gemeinsame Grundlage für eine weitere Zusammenarbeit im Hamburg Ballett zu schaffen.“ Eine gemeinsame Interimsleitung mit Lloyd Riggins, Nicolas Hartmann und Gigi Hyatt soll nun bis Ende der Spielzeit 2025/2026 die Lücke füllen. Die Verantwortung wird auf mehrere Schultern verteilt, um die Weiterentwicklung „zwischen Tradition und Moderne“ fortzuführen. John Neumeier selbst, der die Vorgänge von außen verfolgte, äußerte gegenüber dem NDR die Hoffnung, dass „Ruhe eintritt im Ballett“ und die Tänzer*innen „jetzt gut arbeiten können“.
Doch die dringlichste Frage bleibt: Wie geht es weiter? Die Krise um Volpis Abgang offenbart strukturelle Herausforderungen, vielleicht auch eine verpasste Chance, frühzeitig auf die kritischen Stimmen aus dem Ensemble zu hören. Für Volpi gibt’s nach BILD-Informationen als Schmerzensgeld rund 1,1 Millionen Euro – das gesamte Salär für seinen Fünfjahresvertrag. Der Aufsichtsrat hat einen extern moderierten Prozess angekündigt, um „unter anderem Maßgaben für die künftige Zusammenarbeit in der Compagnie sowie die Anforderungen der Compagnie an eine künftige Ballettdirektion“ zu erarbeiten. Dies ist ein wichtiger Schritt, denn das Wohl und die Zufriedenheit der Tänzer*innen sind das Herzstück jeder Compagnie.
Der Elefant im Raum
Und dann ist da noch der ständige Elefant im Raum: der seit Jahren diskutierte und heiß umstrittene geplante Neubau der Staatsoper auf dem Baakenhöft in der HafenCity. Bürgermeister Peter Tschentscher und Kultursenator Carsten Brosda verkündeten im Februar 2025 die Vertragsunterzeichnung mit der Kühne-Stiftung euphorisch als „Glücksfall für die Kultur und die Steuerzahler*innen“, da der Bau angeblich komplett finanziert werde. Doch die Hamburgische Architektenkammer (HAK) übte scharfe Kritik an diesem Vorgehen. In einem „Brandbrief“ unter dem Titel „Mehr Öffentlichkeit wagen“ forderte die HAK Transparenz, Wettbewerb und eine Stärkung der Innenstadt. Es wurde bemängelt, dass das Projekt „hinter verschlossenen Türen“ entwickelt wurde, ohne vorherige fachliche Expertise, öffentliche Information oder Diskussion. Die Grundfrage, ob Hamburg überhaupt ein neues Opernhaus in dieser Form und an diesem Standort benötigt, sei nie öffentlich diskutiert worden.
Die Architektenkammer wies zudem darauf hin, dass der Neubau keineswegs allein ein Mäzenatengeschenk sei. Die Stadt steuere ein „überaus wertvolles Grundstück in bester Lage“ bei, dazu 147 Millionen Euro für Gründung und Flutschutz sowie die Kosten für die Planung und Herstellung der öffentlichen Freiflächen. Massive Kritik wurde auch an der fehlenden Diskussion über die Nutzung dieses „letzten freien Grundstücks der HafenCity“ sowie die multifunktionale Ausrichtung des Neubaus geübt. Der Vertrag sehe vor, dass das Gebäude ausschließlich für den Betrieb der Staatsoper genutzt werden dürfe, wobei die Kühne-Stiftung jeder Nutzungsänderung zustimmen müsse – was als Einschränkung für breitere Bevölkerungsgruppen und die gesellschaftliche Einflussnahme auf ein solches Großprojekt verstanden wird. Das geplante „Qualifizierungsverfahren“ mit nur „mindestens fünf Planungsbüros“ und einem „deutlichen Missverhältnis von Nicht-Fachleuten und Fachleuten“ in der Jury entspreche zudem in keiner Weise den etablierten Regeln für Planungswettbewerbe. Auch das Vetorecht des Stifter-Ehepaars und die unklare Kostenkalkulation für den späteren Betrieb, der allein von der Stadt zu tragen ist, geben Anlass zur Besorgnis. Die HAK befürchtet kein „volles“, sondern ein „abgespecktes ,Opernhaus light‘“, dessen Funktionalität lediglich „mindestens dem Standard der Bestandsoper entspricht“.
Die Kulturbehörde reagierte auf die Kritik zurückhaltend und verwies auf eine mehrjährige Planungs- und Umsetzungsphase sowie die bevorstehende Befassung der Bürgerschaft. Gleichwohl trägt diese hochkomplexe und kontrovers geführte Bauprojektdebatte zu einem Umfeld bei, in dem die Führung der Staatsoper ohnehin schon unter immensem Druck steht. Auch wenn konkrete Details zu einem kürzlichen Interims-Leiter im kaufmännischen Bereich in den vorliegenden Dokumenten nicht explizit genannt werden, zeugen solche Veränderungen an verschiedenen Führungspositionen von einer Periode der Neuorientierung und Sensibilität innerhalb der Staatsoper insgesamt.
Hamburgs Ballett steht am Scheideweg
Der abrupte Abgang von Demis Volpi ist eine Zäsur, aber auch eine Chance. Die Findung einer neuen Leitung muss diesmal nicht nur künstlerische Vision, sondern auch soziale Kompetenz und die Fähigkeit zur Menschenführung in den Vordergrund stellen. Es gilt, die Wunden zu heilen, das Vertrauen wieder aufzubauen und eine Zukunft zu gestalten, die die herausragende Geschichte des Hamburg Ballett nicht nur weiterschreibt, sondern auch in ein modernes, gesundes Arbeitsumfeld überführt. Diese Episode wird zweifellos als eine kritische Zeit in die Annalen der Hamburger Kulturgeschichte eingehen und die Haltung des Kultursenators auf die Probe stellen, die notwenige Stabilität für die Zukunft dieses Leuchtturms zu gewährleisten – gerade auch angesichts der schwelenden Opernneubau-Debatte, die weit über das Ballett hinausreicht.

