Autorin Ute Holst führt mit neuer Story ins Drogenmilieu

„Finger weg!“

Foto: Leon Gerardo Cholula / Pixabay

Aus einem Zitat eine ganze Geschichte zu entwickeln war eine Aufgabe in der Harburger Schreibwerkstatt. Hier lesen Sie eines der Ergebnisse …

Die Harburger Autorin Ute Holst ist seit Jahren Mitglied in der Schreibwerkstatt bei „Alles wird schön“ unter der Leitung von Kerstin Brockmann. Kürzlich gab die Leiterin ein Zitat vor (in diesem Falle von „Die Küchenuhr“, von Wolfgang Borchert), aus der nachfolgend die Schreibwerkstatt-Teilnehmenden eine eigene Geschichte entwickeln sollten.  Hier die Geschichte von Ute Holst …

Finger weg

von Ute Holst 

Sie sahen ihn schon von weitem auf sich zukommen, denn er fiel auf. Er hatte ein ganz altes Gesicht, aber wie er ging, daran sah man, dass er erst zwanzig war. Er setzte sich mit seinem alten Gesicht zu ihnen auf die Bank. Und dann zeigte er ihnen, war er in der Hand trug. 

Lisa drückte sich eng an ihren großen Bruder heran. Sie hatten sich in der Skateranlage ausgetobt und wollten sich nur einen Moment ausruhen bevor sie sich auf den Heimweg machten. Lisa war heilfroh, dass Ben zwischen ihr und dem Fremden saß. Der Mann war ihr unheimlich, sein Aussehen und seine Bewegungen passten nicht zueinander. Außerdem sprach der Unbekannte kein Wort. Er sah abwechselnd auf die Geschwister und auf seine geöffnete rechte Hand. Die linke verbarg er in der Tasche seiner von Flecken übersäten Hose. Sein Hemd war weit geöffnet und gab den Blick auf rote Flecken auf seinem Oberkörper frei, seine Schuhe waren verschlissen und verstaubt.

Verstohlen zupfte Lisa an Bens Pullover, sie wollte ihn zum Gehen auffordern, aber Ben starrte gebannt auf die Handfläche seines Sitznachbarn. „Was ist das?“, hörte sie ihren Bruder verwundert fragen. „Was könnte das denn sein?“, bekam er zur Antwort. Ben zuckte mit den Schultern: „Ich habe keine Ahnung was das sein könnte“, fragend sah er abwechselnd der Person neben sich ins Gesicht und auf das kleine Päckchen in der Hand des Fremden. Der Mann rückte bis auf die Kante der Bank vor und wandte sich an Lisa: „Was glaubst du, worum es sich handelt?“ Als Lisa keine Antwort gab und ängstlich den Blick abwandte, fragte er erneut: „Hast du denn gar keine Idee?“ Lisa räusperte sich verlegen und sprach mit leiser Stimme: „Sieht aus wie Liebesperlen, diese kleinen Bonbons aus Zucker.“

Der Unbekannte hob die Augenbrauen und sah die Geschwister mit großen Augen an: „Liebesperlen, so, so! Wie alt seid ihr?“ Lisa fühlte sich veralbert, was bezweckte dieser Mensch mit seiner komischen Fragerei, wollte er sich auf ihre Kosten lustig machen? „Ich bin vierzehn und meine Schwester ist zwölf“, flüsterte Ben zögerlich. Unbeeindruckt schaute der Fremdling von einem zum anderen und eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander. Lisa wurde immer unruhiger und rutschte neben ihrem Bruder hin und her. Sie zwickte Ben unauffällig in den Arm und als sie aufstehen wollten, um sich aus dieser merkwürdigen Situation zu befreien, sah der Mann sie bekümmert an und beschwor sie mit fester Stimme: „Bitte bleibt noch einen Moment. Ich kann verstehen, dass ihr Angst vor mir habt, aber ich werde euch nichts tun.“

Er lehnte sich zurück, schloss die Augen und stieß einen lauten Seufzer aus. „Als ich so alt war wie ihr, habe ich auch geglaubt, dass es sich bei diesen Kugeln um Süßigkeiten aus gefärbtem Traubenzucker handelt.“ Mit verzerrtem Gesicht schloss er seine Hand und ballte sie zur Faust. „Sie wurden mir geschenkt als ich noch ein unerfahrener Jugendlicher war.“ Verstohlen wischte er sich die Tränen vom Gesicht. „Ich war damals ziemlich auf mich allein gestellt, meine Eltern hatten keine Zeit für mich und Freunde hatte ich nicht.“ Er schluchzte leise und rieb sich die Stirn bevor er fortfuhr: „Immer, wenn ich diese Dinger genommen hatte, glaubte ich mich besser zu fühlen und stärker zu sein. Schließlich geriet ich sogar in Panik, wenn ich keine dieser Pillen mehr hatte. Doch der Typ, der sie mir anfangs geschenkt hatte, wollte plötzlich Geld dafür haben.“

Er machte eine Pause und schlug sich mit der Faust auf sein rechtes Knie: „Schon bald reichte mein Taschengeld nicht und auch meine Ersparnisse waren schnell ausgegeben.“ Nervös rieb er sich das Kinn: „Schließlich habe ich das Geld genommen, von dem ich eigentlich Lebensmittel einkaufen sollte.“ Heftig schüttelte der Unbekannte den Kopf und seine zerzausten Haare fielen ihm ins Gesicht. „Es dauerte nicht lange, bis meine Alten es bemerkt haben und es gab riesigen Ärger.“ Verlegen scharrte er mit den Füßen im Sand und schaute in die verängstigten Gesichter von Lisa und Ben. Lisa hielt den Arm ihres Bruders fest umklammert und ihren Blick gesenkt, sie wollte nur weg von hier. Bens Gesicht war kreidebleich, er brachte keinen Ton heraus, nickte nur ab und zu mit dem Kopf.

„Meine Eltern haben mich solange bearbeitet, bis ich mit der Sprache herausgerückt bin, wofür ich das Geld genommen habe“, erklärte der Mann stockend. Sein Gesicht in der rechten Hand verbergend sprach er weiter: „Sie haben sich wahnsinnig aufgeregt und mich sofort ins Krankenhaus gebracht.“ Wieder liefen ihm Tränen übers Gesicht, „Was dann kam war eine schreckliche Tortur. Ich musste einen Entzug machen.“ Ben riss die Augen auf und stotterte: „Dann waren es Drogen, und keine harmlosen Süßigkeiten?“

Ben musste sich anstrengen, um die Antwort zu verstehen; denn sie kam nur sehr leise und war kaum zu vernehmen: „Du hast es erfasst, mein Junge, ich bin das Opfer von Rauschgift geworden, mein Leben ist verpfuscht!“ Mit traurigen Augen sah er die Geschwister an: „Bis heute wissen die Ärzte nicht um welche Wirkstoffe es sich gehandelt hat. Fest steht aber, dass mein Körper durch das Gift zerstört worden ist.“ Er stöhnte laut auf und fuhr kurze Zeit später mit zitternder Stimme fort: „Ständig leide ich unter starken Schmerzen, aber niemand kann mir helfen und keiner weiß wie lange ich noch zu leben habe.“ „Aber was ist mit dem Kerl, der dir die Drogen gegeben hat?“, erkundigte sich Lisa erschrocken. „Der ist spurlos verschwunden, vielleicht ist er sogar selbst an einer Überdosis gestorben, keiner weiß es.“ Mit schmerzverzerrtem Gesicht erhob sich der Fremde von der Bank und sah Lisa und Ben lange traurig an: „Nehmt euch ein Beispiel an meiner Geschichte, lasst die Finger von Sachen, die ihr nicht kennt und, die fremde Menschen euch schenken wollen.“ Mit einer energischen Handbewegung und den warnenden Worten: „Dies sind in der Tat Liebesperlen, aber sie sehen den echten Drogen verblüffend ähnlich!“, warf er die bunten Perlen in den Abfalleimer und ging mit gesenktem Kopf davon.

Schweigend nahm Ben seine jüngere Schwester an die Hand und beide gingen in Gedanken versunken zurück nach Hause.

 

Weiterführend siehe auch ´Tiefgang`: Ute Holst – Schatten der Vergangenheit

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