Krankheit als Narrativ

Von einer Klientin: "Postkarte an meine Krankheit"

Welche Geschichte erzählen wir uns über Krankheiten? Haben wir alle das gleiche Verständnis von Krankheit? Ganz sicher nicht.

von Ulrike Hinrichs

Fragst du einen Schamanen der Q’eros, Nachfahren der Inka, dann wirst du eine andere Antwort erhalten, als wenn du einen westlichen Mediziner um Auskunft bittest oder einen Arzt aus einer fernöstlichen Kultur.

Unsere Erzählungen über Krankheiten sind mächtige kollektive Felder, die uns unbewusst prägen. So wie wir die Luft zum Atmen einfach für gegeben hinnehmen, so geht es uns oft auch mit diesen kulturellen Vorannahmen. Was haben wir uns in unserer Gesellschaft bisher über Krankheiten erzählt? Kennst du das, nicht krank sein zu dürfen? Reiß dich zusammen, so schlimm ist das doch gar nicht? Wir kommen aus einer Zeit, die Krankheit als ein reparaturbedürftiges Problem beschreibt. Wie ein Auto, das man in die Werkstatt gibt, sollen Symptome ausgebessert werden. Am besten wirst du gar nicht erst krank.

Mensch als Maschine

René Descarte, (1596 – 1650) Philosoph, Mathematiker, Naturwissenschaftler und Wegbeleiter der Aufklärung postulierte: „Ich sehe keinen Unterschied zwischen Maschinen, die von Handwerkern hergestellt wurden, und den Körpern, die allein die Natur zusammengesetzt hat. (…) Für mich ist der menschliche Körper eine Maschine. In Gedanken vergleiche ich einen kranken Menschen und eine schlecht gemachte Uhr mit meiner Idee von einem gesunden Menschen und einer gut gemachten Uhr.“ (Descartes, René (1996, S. 18). Philosophische Schriften in einem Band (German Edition), F. Meiner Verlag).

Gesundheit als Vaterlandspflicht

Die Nationalsozialisten riefen Krankheit als Gefahr für die Volksgesundheit aus. Zahlreiche Äußerungen Hitlers und anderer führender Nationalsozialisten betrafen die existentielle Wichtigkeit der Volksgesundheit. „Ihr habt die Pflicht, gesund zu sein“ so Baldur von Schirach (1939): „Um dem Führer eine  Freude zu machen, wollen wir das Jahr 1939 zur gesundheitlichen Ertüchtigung seiner Jugend verwenden. Es gilt, die Leistungsfähigkeit unseres Volkes durch vernünftige Lebensführung der jungen Generation zu erhöhen.“ Gesundheit galt als Vaterlandspflicht.

Gesundheit als neoliberaler Anspruch

Jeder ist seines Glückes Schmied. So lautet das Narrativ des neoliberalen Individualismus, das gleichsam Versprechen wir Aufforderung ist. Wenn jeder Mensch direkten Zugriff auf sein Glück hat, ist im Umkehrschluss jeder für sein ausbleibendes Glück verantwortlich – und sogar für sein Unglück. Und zwar indem er nicht ›genug geschmiedet hat‹, sprich, hart und gut genug gearbeitet hat. Dass die Strukturen, in denen er schmiedet, für sein Glück mitentscheidend sind, dass nicht jeder mit einem brauchbaren Amboss auf die Welt kommt, dass das Leben manchen Menschen bessere Materialien zum Schmieden mitgibt, als anderen – all diese systemischen Faktoren von Glück oder Unglück spielen hierbei eine Rolle. Letztendlich geht es zurück auf den frühen Individualismus der alten Griechen und hat unser Denken wie kein anderes geformt“, beschreiben es  El Quassil und Karig ((2022, S. 16). Erzählende Affen. Mythen, Lügen, Utopien. Wie Geschichten unser Leben bestimmen. Ullstein).

Gilt das auch für den „Störfaktor“ Krankheit? Muss ich nur hart genug ackern, um Heilung zu erfahren. So sehen es viele. Diese tief verankerten Glaubenssätze, die weit in unsere Geschichte zurückgehen, wirken wie kulturelle Gene fort. Sätze die wir glauben. Krankheit als Störfaktor ist ein verbreitetes Verständnis in unserer Gesellschaft. Krankheit wird mit Schwäche gleichgesetzt. Auch in der Medizin ist dieses Denken noch nicht überwunden. Zwar gibt es viele Ansätze zu einer ganzheitlichen Medizin, das Konstrukt „Krankheit“ bleibt aber auf diesem historischen Unterbau gemauert. Beispielweise wurde erst 2003 das Fachgebiet „Psychosomatische Medizin und Psychotherapie“ eingeführt. Wie können wir die alten  Glaubenssätze überwinden und eine neue Perspektive bekommen, die uns aus dem Krankheitsgefängnis befreit?

Gesundheit und Krankheit als fließende Bewegung

Der ganzheitliche Ansatz der Salutogenese, den ich dir kurz vorstellen möchte,  wurde Ende der 1970er vom Gesundheitswissenschaftler Aaron Antonovsky als Alternative zur Pathogenese eingeführt (Aaron, Antonovsky. (1979). Health, stress and coping. Jossey‑Bass). Danach sind Gesundheit und Krankheit keine feststehenden Zustände, sondern eine fließende Bewegung. Gesundheit ist nicht die Abwesenheit von Krankheit, sondern ein Gesundheits-Krankheits-Kontinuum. Mir gefällt die Metapher einer fließenden Bewegung. Wir können auch mit einer Erkrankung aufblühen. Die Krankheit kann uns eine Lehrmeisterin sein.

Krankheit als Bild

Ab jetzt eröffnet das Universum für dich seine Sprechstunde

In unserer Gruppe „Krankheit als Bild“ im Kulturhaus Süderelbe, die vom Bezirksamt Harburg gefördert wird, arbeiten wir mit der Kunst als Ausdrucksform, um uns unseren Symptomen und Schmerzen zu nähern. Wie auf einer universellen Aussichtsplattform erkennst du durch die Kunst als Sprache Zusammenhänge, die du vorher nicht gesehen hast. Ab jetzt eröffnet das Universum für dich seine Sprechstunde.

Im Header siehst du ein Praxisbeispiel aus meiner Gruppe. Der Impuls lautete: Gestalte für deine Krankheit eine Postkarte, wie für eine gute Freundin. Was würdest du ihr schreiben? Welchen Trost bräuchte sie? Welche Worte hättest du für sie? Welches Bild würdest du für sie gestalten? Viele solcher Impulse findest du in meinem Praxisbuch Krankheit als Bild, das dir Hilfe zur Selbsthilfe bietet. Anhand einfacher Beispiele lernst du die mythische Ausdrucksform deiner Körpersymptome kennen und verstehen. Die Übungsanleitungen unterstützen dich, die Kunst als Dolmetscherin für deine Symptome zu nutzen.

Weitere Beispiele findest du auch unter www.krankheit-als-bild.de

Siehe zum Thema meine Artikel auf Tiefgang:

 Krankheit als Bild

Mit Pinsel und Farbe die Botschaft deiner Krankheit entschlüsseln

254 Seiten, 88 farbige Abbildungen; ISBN 9783756890156

Preis: EUR 26,90; ebook: 16,99

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Ulrike Hinrichs ist Gesprächstherapeutin, Kunsttherapeutin (M.A.), Heilpraktikerin für Psychotherapie, Traumazentrierte Fachberaterin und Anwenderin Positive Psychologie. Sie ist auch Ausbilderin für Kunsttherapie und Autorin zahlreicher Sachbücher. www.lösungskunst.com

 

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