Warum Gedichte?

Grafik: Gaby Stein / Pixabay

Sind Gedichte out oder zu mühsam? Unsere Autorin sagt nein. Aus gutem Grund …

von Ulrike Burbach

Viele Menschen machen um Gedichte einen Bogen. Oft werden diese für irgendwie unzeitgemäß gehalten, zu poetisch verklausuliert in unserer rationalen Zeit, es gilt als mühsam, sich mit ihnen auseinanderzusetzen.

Dass sich diese Mühe lohnen kann, dass Gedichte uns bereichern und in andere Welten versetzen können, möchte ich beispielhaft an dem folgenden Gedicht zeigen. Geschrieben hat es Stefan George.

Der Herr der Insel
Die fischer überliefern dass im süden
Auf einer insel reich an zimmt und öl
Und edlen steinen die im sande glitzern
Ein vogel war der wenn am boden fussend
Mit seinem schnabel hoher stämme krone
Zerpflücken konnte – wenn er seine flügel
Gefärbt wie mit dem saft der Tyrer-schnecke
Zu schwerem niedrem flug erhoben habe
Er einer dunklen wolke gleichgesehn.
Des tages sei er im gehölz verschwunden
Des abends aber an den strand gekommen
Im kühlen windeshauch von salz und tang
Die süsse Stimme hebend dass delfine
Die freunde des gesanges näher schwammen
Im meer voll goldner federn goldner funken.
So habe er seit urbeginn gelebt
Gescheiterte nur hätten ihn erblickt.
Denn als zum ersten mal die weissen segel
Der menschen sich mit günstigem geleit
Dem eiland zugedreht sei er zum hügel
Die ganze teure stätte zu beschaun gestiegen
Verbreitet habe er die grossen schwingen
Verscheidend in gedämpften schmerzenslauten.

Warum gerade dieses Gedicht?
Zum ersten Mal MUSSTE ich es lesen, in der Schule im Deutschunterricht. Von seinem Inhalt begriff ich damals nicht sehr viel, doch schlug es mich von Anfang an mit seiner ganz besonderen Sprache in seinen Bann. Hier verstand sich jemand meisterhaft auf sprachlichen Ausdruck.
Seitdem habe ich es (freiwillig) noch viele Male gelesen, denn seine Faszination ließ auch über die Jahre nicht nach. Gerade dieses Gedicht erinnert an Musik, an Klang und Rhythmus und spricht auf diese Weise etwas in uns an, das jenseits von reiner Informationsweitergabe und logischer Aussage liegt. Es fordert etwas in uns heraus, was mit unserer Fantasie zu tun hat, mit unserer Sinnlichkeit und Erlebnisfähigkeit. Ein Gedicht wie dieses können wir erfahren. Natürlich vermitteln Gedichte neben dem rein ästhetischen Erlebnis auch einen gewissen Inhalt. Und dies auf eine ganz besondere Weise; nämlich in Wörtern, die so dicht gepackt sind, wie sonst an keinem anderen Ort der Sprache. Hier ist tatsächlich unser Scharfsinn gefragt.
Um den Inhalt eines Gedichtes besser erschließen zu können, kann es ratsam sein, z.Bsp. Über Wikipedia schnell etwas über den Autor, die Zeit, in der er lebte und die literarische Epoche, der sein Werk angehört, in Erfahrung zu bringen.
Der Herr der Insel fällt in die Zeit des Symbolismus‘ (1890 – 1920). Diese literarische Phase lässt sich als Reaktion auf die damaligen Zeitumstände verstehen, auf die zunehmende Industrialisierung, den wachsenden technischen und wissenschaftlichen Fortschritt, auf die sich ausbreitende rationale und materielle Gesinnung in der Gesellschaft. Die symbolistischen Dichter sahen diese Entwicklung eher skeptisch. Deshalb wollten sie eine eigene Kunstwelt schaffen, eine gewisse Gegenwelt sozusagen, eine symbolische Version der Wirklichkeit. Dafür verwendeten sie eine besonders schöne, sinnliche und bildhafte Sprache, wofür Georges Gedicht sicher ein gutes Beispiel ist.

Stefan George (1868 – 1933) war zunächst stark von den französischen Symbolisten um Mallarmé beeinflusst, löste sich aber später davon und suchte eigene ästhetische und philosophische Wege. Doch lässt sich Der Herr der Insel, das 1894 entstand, sicher noch zu seiner symbolistischen Phase zählen. George war ein Sprachgenie, der sich mehrere Sprachen selbst beibrachte. Er litt unter seiner Homosexualität, die damals noch als völlig verwerflich galt. Die Nazis versuchten, ihn zu vereinnahmen, doch lehnte er dies ab. Tatsächlich hat er den Widerstand gegen die Nationalsozialisten um Stauffenberg inspiriert.
In menschlicher Hinsicht mag er gelegentlich fragwürdig gehandelt haben – dies können wir kritisieren – doch ist seine Kunst unabhängig davon zu bewerten. Einen Widerspruch zwischen Werk und Mensch müssen wir als Rezipienten aushalten.

Mit diesen Hintergrundinformationen wenden wir uns nun dem Gedicht selbst zu.

Im Mittelpunkt dieses Werkes stehen eine Insel von unglaublicher Schönheit und der sagenhafte Vogel, der sie bewohnt. Fischer berichten davon; im Text steht überliefern – ein Begriff, der gleich auf einen Zusammenhang mit Legenden und Mythen verweist. Diese Insel liegt im Süden, einer Region, mit der wir Wärme, Glück und Wohlergehen assoziieren. Die Vorstellung einer Insel ruft ein Bild von Weltabgeschiedenheit und Idylle hervor.
Und tatsächlich leben keine Menschen auf dieser Insel, sondern nur ein geheimnisvoller Vogel, der unglaublich groß (und wenn am boden fussend / Mit seinem schnabel hoher stämme kronen zerpflücken konnte) und gekleidet wie ein König ist (seine flügel / Gefärbt wie mit dem saft der Tyrerschnecke). Er überblickt ein Königreich voller natürlicher Schätze (zimmt, öl, edle steine, gehölze).
Doch besitzt er sein Reich auf eine ganz besondere Art. Nicht ohne Grund hat George dort keinen Menschen als Herrscher eingesetzt. Denn dieser märchenhafte Vogelkönig giert nach nichts, er beutet seine Insel nicht aus, sondern ist – ganz im Gegenteil – eins mit seiner Welt. Seine Größe ist nicht nur körperlicher Art, sondern ebenso Bild seiner Großzügigkeit, eines Reichtums auch in seiner Art zu existieren. Der Vogel belässt diese zauberhafte Insel so, wie sie immer gewesen ist (so habe er seit urbeginn gelebt).
Seine Sprache ist der Gesang, von dem Geschöpfe angezogen werden, die diese Sprache verstehen und lieben, die die Schönheit und Vollkommenheit der Umgebung zu schätzen wissen. Auch diese Wesen sind keine Menschen, sondern Delfine, von denen ebenfalls keine Bedrohung ausgeht (Die süsse stimme hebend dass delfine / Die freunde des gesanges näher schwammen / Im meer voll goldner federn goldner funken).
Über eine lange Zeit hinweg konnten nur Gescheiterte dieses Paradies erblicken, Menschen, die in ihrem Leben Schiffbruch erlitten haben und deshalb ihre Hoffnungen auf etwas Höheres setzen müssen. Als endlich die Menschen es schafften, zu dieser sagenhaften Insel vorzudringen, nehmen die Dinge ihren gewöhnlichen Lauf: nun ist es vorbei mit all dieser Herrlichkeit. Im letzten Augenblick nimmt der Vogel Abschied von ihr. Sein Tod vollzieht sich unbemerkt und ohne große Klage (Verscheidend in gedämpften schmerzenslauten). Die Menschen werden nie wissen, was sie angerichtet haben.
Das Gedicht besteht aus einer einzigen langen, 23 Zeilen umfassenden Strophe, in der der Inhalt in einer streng geformten Sprache dennoch auf das Anschaulichste präsentiert wird. Wir finden keine Reime vor, eine Zeile fließt inhaltlich in die nächste über, was man in der Fachsprache Enjambement nennt. Auf diese Weise wird der Leser fortlaufend durch das Geschehen gezogen bis hin zu seinem bitteren Ende.

Was hat uns dieses Gedicht heute noch zu sagen?

Zu Georges Zeiten hat es noch keine Umweltbewegung im heutigen Sinne gegeben und wir dürfen sein Anliegen nicht mit unseren derzeitigen verwechseln. Doch war George ein Naturliebhaber – vielleicht in einem etwas umfassenderen Sinne als in unserer aktuellen Konzentration auf den Naturschutz. In seinem Gedicht erscheint die Natur als eine alte Ordnung, die zu stören Unglück und Tod mit sich bringt. Zudem wollte der Dichter, der auf Menschen nicht gut zu sprechen war, auch etwas über die problematische menschliche Natur zum Ausdruck bringen, die Habsucht und Besitzgier, die zuviel von dem zerstört, das wir eigentlich in unserem eigenen Interesse erhalten müssten. In diesem Sinne halte ich das Werk für hochmodern.
Und was Gedichtinterpretationen anbelangt: könnten sie in einer ökologischeren und weniger materiell ausgerichteten Gesellschaft nicht eine sinnvolle Beschäftigung darstellen?

Literatur:
1) Hans Dieter Gelfert: Wie interpretiert man ein Gedicht? (Reclam)
2) Deutsche Gedichte, eine Anthologie (Reclam)
3) Wikipedia: Stefan George
4) Wikipedia: Symbolismus

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