Halle für aktuelle Kunst zeigt ab 24. Oktober "Into the Unseen"

Wenn Fotografie zu riechen beginnt

Cang Xin, To Add One Meter to an Anonymous Mountain, 1995 (© Cang Xin. Courtesy the artist and The Walther Collection, New York/Neu-Ulm)

In einer Zeit, in der Bilder im Sekundentakt über unsere Screens flimmern, wirkt der Vorschlag fast revolutionär: Die Ausstellung „INTO THE UNSEEN“ der Walther Collection kehrt das gängige Paradigma um.

In der Halle für aktuelle Kunst geht es ab dem 24. Oktober nicht um die perfekte Belichtung und Sichtbarkeit, sondern um Dunkelheit, Schatten und das, was sich unseren Augen entzieht. Die Kuratorinnen Nadine Isabelle Henrich und Prof. Tina Marie Campt verstehen Fotografie als ein Medium des Widerstands und der Verbindung. Sie inszenieren die Schau als eine „multisensorische Auseinandersetzung mit der Welt“, die uns riechen, berühren und fühlen lässt.

Die Ausstellung vermeidet jede Vorstellung von Sehen als privilegiertem Sinnesregister. Die Besucher*innen betreten die Halle und finden sich nicht im erwarteten White Cube wieder, sondern in dunklen Räumen, in denen Bilder organisch schweben. Die Wände verströmen einen subtilen Duft, und kleine architektonische Strukturen aus lokalem Douglasienholz schaffen intime Räume für die Betrachtung. Das Holz wurde mit der traditionellen japanischen Yakisugi-Technik oberflächlich verbrannt, was ihm eine tiefschwarze, schimmernde Oberfläche verleiht. Diese kuratorische Intervention ist Programm: Sie intensiviert das Erlebnis der Auseinandersetzung mit Kunst, indem sie alle unsere Sinne aktiviert.

Die radikale Hinwendung zur sinnlichen Erfahrung ist im fünften Kapitel der Schau besonders eindrücklich verankert. Hier wird die unmittelbare körperliche Erfahrung zum Portal zur Welt und zum Ungesehenen.

Cang Xin, Communication Series No. 2, 1996–2006 (© Cang Xin. Courtesy the artist and The Walther Collection, New York/Neu-Ulm)

Die Werke chinesischer Künstler des legendären Beijing East Village Collective sind dafür exemplarisch: Cang Xin etwa wählt in seiner Communications Series No. 2 (1999) den Geschmackssinn als unmittelbare Verbindung mit dem Außen. Das Bild, in dem die Zunge des Künstlers eine rote, künstliche Tulpe berührt, ist eine provokante Geste der Einverleibung und Kommunikation, die den Blick in einen Tastsinn umwandelt. Es ist ein Akt der körperlichen Erkenntnis, der weit über das bloße Abbilden hinausgeht.

Die Arbeiten von Song Dong und RongRong testen ebenfalls die Grenzen sinnlicher Erkenntnis, indem sie das Ungesehene erforschen, das im menschlichen Körper wohnt. Das Schwarz-Weiß-Porträt eines jungen Mannes von RongRong, dessen Gesicht fast vollständig von Seifenschaum bedeckt ist – eine scheinbar alltägliche, aber verfremdete Szene – evoziert das Gefühl der verschwommenen Identität und der körperlichen Metamorphose.

Ein weiteres monumentales Werk von Cang Xin unterstreicht die körperliche Auseinandersetzung mit der Landschaft: ToAdd One Meter To An Anonymous Mountain (1995) zeigt eine Pyramide aus nackten Körpern, die auf einem Berg ruhen. Es stellt eine performative Verbindung zur Landschaft her, in die Geschichten und Spuren eingeschrieben sind.

Frequenzen der Dunkelheit und das Archiv der Verlorenen

Die Ausstellung beginnt bereits im ersten Raum mit einer Verschiebung des Fokus von Belichtung hin zu Dunkelheit und Schatten. Werke wie Santu Mofokengs Chasing Shadows betonen die „Andersweltlichkeit“ von Bildern, die die Grenze zwischen Dokumentation und Imagination verwischen. Auch im Kapitel „Dem Land Zuhören“ stellen Künstler wie Em’kal Eyongakpa und David Goldblatt durch Performance, Berührung und Klang eine enge Verbindung zur Landschaft her, in der koloniale Widerstände und gesellschaftliche Porträts eingeschrieben sind.

Besonders eindringlich-poetisch wird das Thema im vierten Kapitel: „Fotografische Sedimente“. Das Lost & Found Project von Munemasa Takahashi zeigt rund 1.600 durch den Tsunami 2011 beschädigte Familienfotos als schwebende Bildformation im Raum. Diese physisch zerstörten, aber digital geretteten Bilder sind das ultimative visuelle Archiv des Verlusts, der Rettung und des Nachlebens von Bildern.

„Into the Unseen“ ist die letzte große Präsentation der renommierten Walther Collection in Europa, bevor 6.500 Werke als Schenkung an das Metropolitan Museum of Art nach New York gehen. Diese Ausstellung ist kein Museumsgang, sondern eine tiefgreifende, multisensorische Reise in das Ungesehene. Sie konfrontiert uns mit der Frage, was Fotografie ist, wenn sie uns nicht nur zeigt, sondern uns berührt.


Die Ausstellung wird gemeinsam mit der Schau „Huguette Caland: A Life in a Few Lines“ eröffnet.

INTO THE UNSEEN | Halle für aktuelle Kunst, Deichtorhallen Hamburg, Deichtorstr. 1-2, 20095 Hamburg

24. Oktober 2025 – 26. April 2026

Dienstag – Sonntag, 11–18 Uhr. Jeden 1. Donnerstag im Monat von 11–21 Uhr bei freiem Eintritt von 18–21 Uhr.

  • Panel Talk: Am Do., 23. Oktober 2025 um 17 Uhr in der Halle für aktuelle Kunst mit Tina Marie Campt, Nadine Isabelle Henrich und Artur Walther. Exklusiv nur bei Voranmeldung unter hdp@deichtorhallen.de.
  • Publikation: Eine umfangreiche Publikation zur Ausstellung entsteht in Zusammenarbeit mit The Walther Collection und erscheint voraussichtlich im Dezember 2025.

Related Post

Druckansicht