Serie „Gedenken in Harburg“: Hilda und Sonja Boygen – Neue Str. 56

Das mörderische Wiedersehen mit einem Harburger

Foto: H. Langanke

Hilda und ihre Tochter Sonja werden als Jüdinnen nach Łód´z deportiert und dort wütet ausgerechnet ein Nachbar aus Harburg.

Hilda Boygen wurde als Hilda Levy am 24. Juli 1904 in Filehne geboren. Das liegt an der Neetze in der einst preußischen Provinz Posen (heute: Polen). Mit ihrem neun Jahre älteren Mann Isaac Boygen verließen  beide ihre Heimat gen Harburg an der Elbe und wurden dort Mitglieder der Jüdischen Gemeinde In der neuen Heimat eröffnete Isaac Boygen Ende der 1920er Jahre ein kleines Geschäft für Herrenbekleidung in der Neuen Straße 56. Die jungen Eheleute wohnten auch in demselben Haus, das direkt neben der 1652 eingeweihten evangelischen Dreifaltigkeitskirche lag. Hier wuchs auch ihre Tochter Sonja – am 15. Dez. 1930 in Harburg geboren – auf.

Der Herrenausstatter

Von Anfang an dürfte Isaac Boygen als Geschäftsmann die Folgen des starken Konkurrenzkampfes vor Ort, der bald noch durch die Weltwirtschaftskrise verschärft wurde, zu spüren bekommen haben. Dass sein Name nicht auf der umfangreichen Boykott-Liste des Harburger Magistrats vom 30. März 1933 zu finden ist, die insgesamt 54 jüdische Firmen für Harburg verzeichnete, lässt darauf schließen, dass er bereits zu diesem Zeitpunkt – zumindest vorübergehend – den Verkauf eingestellt hatte. Die endgültige Aufgabe des Geschäfts erfolgte spätestens im Jahre 1935, als Isaac Boygen mit seiner Familie wie viele andere Harburger Jüdinnen und Juden vor und nach ihm in die Großstadt Hamburg zog und dort Mitglied der Deutsch-Israelitischen Gemeinde im Grindelviertel wurde. Seine neue Anschrift lautete Grindelallee 29.

Die „Polenaktion“

Am 28. Oktober 1938 gehörten Isaac, Hilda und Sonja Boygen zu den rund 1.000 Hamburger Juden, die innerhalb eines Tages im Zuge der „Polenaktion“ nach Neu-Bentschen transportiert und dort im Morgengrauen des nächsten Tages über die Grenze nach Zbaszy´n abgeschoben wurden.

Wie es ihnen dort in den folgenden Tagen und Wochen erging, ist nicht bekannt. Offen bleibt, wo und wie sie in Zbaszy´n untergebracht waren, ob sie sich von dort um eine Ausreise in ein anderes Land bemühten oder bei entfernten Verwandten in ihrer alten Heimat Zuflucht fanden und wohin sie anschließend gelangten. Spätestens im Sommer 1939 wurden die letzten Vertriebenen angesichts der zunehmenden politischen Spannungen zwischen dem Deutschen Reich und Polen aus dem Grenzgebiet in das polnische Landesinnere verfrachtet.

Nach dem deutschen Überfall auf Polen im September 1939 wurden die meisten dieser Menschen erneut Opfer der nationalsozialistischen Judenpolitik. Das gilt zumindest auch für die Tochter Sonja Boygen. Von ihr ist zumindest bekannt, dass sie zeitweise zu den Bewohnerinnen des Gettos Łód´z zählte, das die deutschen Besatzungsbehörden im Laufe des Jahres 1940 im jüdischen Armenviertel der Stadt errichteten. Mehr als 154.000 polnische Jüdinnen und Juden wurden hier auf knapp vier Quadratkilometern zusammengepfercht. Ihre systematische Ermordung begann im Dezember 1941, als die nahe gelegene Vernichtungsstätte Chełmno in Betrieb genommen wurde.

Wilhelm Koppe aus Harburg (Archiv Heyl)

Sonja Boygen wusste damals nicht, dass diese Mordfabrik unter maßgeblicher Mitarbeit eines ihrer einstigen Harburger Nachbarn, des ehemaligen Kaffee- und Schokoladengroßhändlers Wilhelm Koppe, entstanden war. Sein Büro an der Westseite des Sands war damals keine 500 Meter von dem Haus entfernt, in dem sie ihre ersten Lebensjahre verbracht hatte. Wilhelm Koppe war 1930 der NSDAP beigetreten und 1932 Mitglied der SS geworden. Damit begann seine steile NS-Karriere, die im Oktober 1939 zunächst in seiner Ernennung zum „Höheren SS- und Polizeiführer“ im neu errichteten „Warthegau“ gipfelte. Ab Ende 1939 war er verantwortlich für die Deportation, Gettoisierung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung im „Warthegau“, also auch für die Errichtung des Gettos Łód´z und des Vernichtungslagers Chełmno/Kulmhof. 1943 wechselte er als „Höherer SS- und Polizeiführer“ sowie Staatsekretär für das Sicherheitswesen vom „Warthegau“ in das Generalgouvernement. Wilhelm Koppe kehrte am Ende des Kriegs unbeschadet nach Deutschland zurück, wurde gar Geschäftsführer der Bonner Sarotti-Werke und lebte dort unter dem falschen Namen Lohmann bis 1975. (sieh hierzu auch „Welt am Sonntag“ vom 23. Okt. 2011)

Seine einstigen jüdischen Nachbarn Sonja Boygen und ihre Mutter Hilda hingegen ha­ben den Holocaust nachweislich nicht überlebt. Alle Nachforschungen über Isaac Boygens weiteren Lebensweg sind bisher trotz wiederholter Versuche ergebnislos verlaufen.
© Klaus Möller, gedenken-in-harburg.de

(leichte Überarbeitung für ´Tiefgang` v. Heiko Langanke)

Quellen: 1; 4; 5; 8; Heyl (Hrsg.), Harburger Opfer; Heyl, Synagoge.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Recherche und Quellen.

Weiterführender Link: stolpersteine-hamburg.de

Standort Neue Straße: google/maps

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