
Viele Menschen mussten früh lernen, ihre eigene Stimme zu unterdrücken. Die Kunst kann ein machtvoller Weg sein, die innere Wahrheit zu finden und sie laut auszusprechen. Ein uraltes Symbol hilft dabei. Der Redestab.
von Ulrike Hinrichs
Der Redestab ist ein rituelles Werkzeug, das in vielen Kulturen insbesondere bei indigenen Völkern Nordamerikas zur Anwendung kommt. In Ratsversammlungen wird der Stab weitergereicht: Wer ihn hält, darf sprechen. Das fördert Aufmerksamkeit, Respekt und gleichwertige Kommunikation.
Auch in anderen Kulturen gibt es Varianten dieser Tradition, wie etwa der keltische Druidenstab, afrikanische Sprecherstäbe, der Krummstab kirchlicher Würdenträger oder der magische Zauberstab in Mythen und Märchen. Sie alle verbindet: Der Stab steht für Macht, Wandlung und Autorität, oft in Verbindung mit spiritueller oder natürlicher Kraft.
Im deutschen Sprachraum gilt der Stenz als besonderer Wander- oder Redestab, vor allem im Zusammenhang mit den fahrenden Handwerksgesellen. Der Stenz ist ein spiralförmig oder knotig geformter Holzstab. Diese Form entsteht, wenn etwa eine Waldrebe oder ein Geißblatt sich um einen jungen Baum windet, der dann die verdrehte Form annimmt. Um solche Stäbe ranken sich viele Mythen. Der Stenz gilt als beseelt. Er ist ein Mittler zwischen Baum und Mensch. In ihm wohnt ein Waldwesen, eine Elfe oder ein Baumgeist, heißt es.
Der Redestab als geistiger Korkenzieher für das Unausgesprochene
Im Kontext von Kunst und Selbstausdruck kann der Redestab zu einem Symbol der Rückverbindung mit der eigenen Stimme werden. Indem wir unsere eigene Geschichte erzählen, verwandeln wir Blut in Leben, Ohnmacht in Ausdruck und Schweigen in Stimme. Wenn wir beginnen, nicht mehr die Erzählungen und Zuschreibungen anderer zu übernehmen, sondern unsere Wahrheit erzählen, dann kann Heilung beginnen. Ein Redestab ermutigt uns, der Wahrheit ins Auge zu sehen, nichts davon abzulehnen, Licht und Schatten zu vereinen. Er ist ein geistiger Korkenzieher für die unausgesprochenen Worte.
In meiner Gruppe für Frauen mit Gewalterfahrung, die vom Bezirksamt Harburg gefördert wird, haben wir mit dieser Intention einen Redestab gestaltet. Denn vor der physischen Gewalt steht oft die psychische. Unterdrückung, Manipulation und Redeverbot greifen früh. Worte sind machtvoll. Deshalb werden sie oft zuerst unterdrückt. Das gilt in Diktaturen ebenso wie im Privaten.
Der Redestab steht als Symbol, die eigene Stimme zu erheben, sich zu wehren und wieder Gehör zu verschaffen. Jeder Redestab trägt die Kraft derer, die ihn halten, und wird so zu einem Zeichen von Würde, Stärke und gemeinsamer Heilung.

Und so geht´s
Suche dir einen Stock oder lass dich von ihm finden. Vielleicht ist es ein Ast aus dem Wald, ein besonderer Kochlöffel oder ein alter Besenstiel – es gibt keine Regeln, nur das Gefühl der Stimmigkeit für dich.
Gibt es noch etwas, womit du deinen Redestab verzieren möchtest? Das können Federn, Perlen, Bänder, Steine oder andere kleine Dinge sein, mit denen du deinen Redestab schmückst und ihm damit eine besondere Bedeutung gibst. So wird er zu deinem ganz persönlichen Ausdruck deiner Stimme, deiner Geschichte und deiner inneren Wahrheit.
Lass deinen Redestab so zu einem Werkzeug werden, das deine innere Stimme stärkt und deine Wahrheit ans Licht bringt.
Mehr Praxisbeispiele zur Selbstfürsorge und Selbstermächtigung findest du in meinem Buch
Gymnastik für die Seele: Mit Pinsel und Farbe zu mehr Selbstmitgefühl.
Ulrike Hinrichs – Gymnastik für die Seele
Mit Pinsel und Farbe zu mehr Selbstmitgefühl
ISBN 978-3-99165-010-2
20,00 EUR
Mit 50 Praxisübungen und 73 farbigen Abbildungen
Das Cover-Bild stammt von der Harburger Künstlerin Yvonne Lautenschlägers
Ulrike Hinrichs ist Gesprächstherapeutin, Kunsttherapeutin (M.A), Anwenderin Positive Psychologie und Autorin www.ulrikehinrichs.com
Die Gruppe „Mit Bild- und Wortnotizen gegen Gewalt“ wird gefördert vom Bezirksamt Harburg.

