Institut für Kulturelle Teilhabeforschung legt Studie vor

Die Pandemie als Brandbeschleuniger

Die Pandemie ist bewältigt. Aber ist nun auch alles wieder gut? Mancher Blick täuscht. Es gibt viel zu tun …

Wie nun eine Studie aufzeigt, hat die Pandemie manche Prozesse im Kulturbetrieb beschleunigt. Wer sich nun neuen Erfordernissen nicht anpasst, wird absehbare Herausforderungen nur schwer stemmen können.

Das Institut für Kulturelle Teilhabeforschung (IKTf) hat bereits 2019 begonnen eine Langzeitbefragung durchzuführen: eine kontinuierliche Erforschung der Besucher*innen von Kultur- und Freizeiteinrichtungen im deutschsprachigen Raum – kurz KulMon®. Insgesamt 56.093 standardisierte Interviews wurden von Januar 2019 bis Ende August 2022 und mit Ausnahmen der Lockdowns durchgeführt. In 7 Museen und Gedenkstätten sowie 9 Bühnen wurden die Besucher*innen befragt.

Und die Ergebnisse sind herausstechend:

  • Der Anteil der Altersgruppen über 60 Jahre ist 2020/2021 im Kulturpublikum stark gesunken, hat sich 2022 aber wieder erholt. Allerdings wurden die grundsätzlichen Probleme eines tendenziell veralteten Publikums durch die Krise noch verschärft.
  • Lokale Besucher*innen kompensierten nicht das Wegbleiben von Tourist* innen. Insbesondere für Kultureinrichtungen mit traditionell hohem Anteil von Gästen aus dem Ausland stellt deren Wegfall auch aktuell noch eine ökonomische Herausforderung dar.
  • Kultureinrichtungen, welche nur ein homogenes und nicht diverses Stammpublikum ansprechen, können dessen Webbleiben kurzfristig nicht einfach kompensieren.
  • Die Pandemie hat die soziale Ungleichheit im Kulturpublikum verschärft. Diejenigen gesellschaftlichen Gruppen, welche bereits vor der Krise Kultureinrichtungen selten besucht haben, sind in COVID-19- Zeiten noch stärker weggeblieben. Diese Entwicklung hat sich 2022 noch nicht erholt.
  • Hygiene- und Sicherheitsmaßnahmen der Kultureinrichtungen wurden vom Publikum begrüßt und sehr positiv beurteilt.
  • Digitale Angebote der Kultureinrichtungen ersetzen zumindest auf Seiten des bestehenden Publikums keine Präsenzveranstaltungen.

Die Pandemie hat ab dem Frühjahr 2020 zu einem deutlichen Rückgang des Anteils der Besucher*innen über 60 Jahre geführt. Aufgrund noch nicht existierender Impfungen und noch nicht flächendeckender und verpflichtender Nutzung von Schutzmasken blieben diese statistisch gesehen gesundheitlich vulnerablen Gruppen 2020 Kulturangeboten aus Furcht vor Ansteckung fern. Der Anteil der 60 bis 70- Jährigen ist um ein Drittel, der der 70 bis 80- Jährigen um die Hälfte und der der über 80- Jährigen sogar um zwei Drittel gesunken. Vordergründig hat es den Anschein, als ob die Anteile jüngerer Besucher*innen gestiegen wären. Dieses Phänomen ist jedoch nur auf das Fehlen der älteren Gäste zurückzuführen und nicht mit einer gestiegenen Besuchsaktivität der jüngeren Gäste gleichzusetzen. Bereits im Verlauf von 2021, aber dann vor allem von 2022 haben sich die Anteile der älteren Besucher* innen wieder erholt – die Altersverteilung hat also wieder das präpandemische Niveau erreicht.

Im Kulturpublikum besteht ganz generell wenig Diversifizierung nach Altersgruppen. Ältere sind prinzipiell überdurchschnittlich häufiger vertreten als in der Gesamtgesellschaft. Die Kultursoziologie ist sich schon seit Langem einig: Diese ungleiche Verteilung ist nicht auf einen Alters-, sondern auf einen Generationeneffekt zurückzuführen. Ein bestimmtes Verhalten (z. B. Kulturbesuch) tritt nicht mit dem Beginn eines gewissen Alters ein, es ist vielmehr von der Generation abhängig, in welcher eine Person sozialisiert wurde. Somit entwickeln später geborene Generationen im Alter nicht „automatisch“ ein Interesse an Kulturbesuchen.

Schlussfolgerungen:

  • Die Pandemie hat zahlreiche bereits vorher bestehende Herausforderungen in der Struktur des Publikums von Kultureinrichtungen verschärft. Sie wirkt dabei wie ein Brandbeschleuniger.
  • Eine heterogene Struktur des Publikums, die nicht die Diversität der Gesellschaft abbildet, führte in der Pandemie zum ökonomisch problematischen Wegbleiben der Besucher* innen. Zu diskutieren ist, wie durch eine andere Programm- und Personalpolitik auch eine stärkere Diversität im Publikum geschaffen werden kann, um auch auf zukünftige Krisen besser reagieren zu können.
  • Die Verschärfung der sozialen Ungleichheit durch die Pandemie ist enorm. Mögliches Gegensteuern wird auch dadurch erschwert, dass Einrichtungen aus rein ökonomischen Gründen gezwungen waren, sich in den Pandemiejahren und auch noch aktuell um die Sicherung des Stammpublikums zu kümmern.
  • Die digitalen Angebote der Kultureinrichtungen werden von den Nutzer*innen noch nicht ausreichend angenommen. Zu diskutieren ist, inwieweit eine Investition in Vermittlungs- und Kommunikationsmaßnahmen zu einer höheren Nutzung führen können.
  • Empirisch noch nicht angemessen erforscht ist die These der Entwöhnung des Publikums. Inwieweit verlagerte sich in Zeiten des Lockdowns das Freizeitverhalten in den privaten Raum? Und wie besonders war die Rolle der Beziehungsqualität zwischen Besucher*in und Einrichtung? Geht die Einrichtung sogar gestärkt aus der Krise, wenn sie die Beziehung aufrechterhält? Diese Fragen müssen zukünftige Studien beantworten.
  • Schließlich kann auch ergebnisoffen diskutiert werden, in welchen Sparten und an welchen Orten 2022 das Angebot an Kulturveranstaltungen stärker gewachsen ist als die Nachfrage, und welche Konsequenzen die verschiedenen Akteur*innen aus Einrichtungen, Verwaltung und Politik daraus ziehen. In anderen vergleichbaren Branchen wie z. B. der Veranstaltungswirtschaft werden dementsprechende Überangebote bereits erkannt.

Die gesamte Studie gibt es hier zum Download: www.iktf.berlin

 

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