Serie „Gedenken in Harburg“: Marie Przywarra – GroßerSchippsee 15

Zwei dünne Schnitten zum Essen

Foto: H. Langanke

Sie war ein lebhaftes Arbeiterkind, das als Teenie epileptische Anfälle bekam. Statt ihr zu helfen, gaben ihr die Nationalsozialisten den Rest.

Marie Przywarra wurde am 23. Sept. 1898 als uneheliches Kind der Arbeiterin Charlotte Przywarra in Harburg an der Elbe geboren. Ihre Mutter wohnte im Zentrum der seinerzeit noch preußischen Stadt. Einer der Wohnsitze war definitiv aber der Große Schippsee 15. Später wechselte sie ihre Anschrift mehrfach. Auf diese Weise lernte Marie Przywarra nicht nur Harburg, sondern auch die ländliche Umgebung der Stadt kennen. In den ersten Lebensjahren entwickelte sich das kleine Mädchen offenbar so wie andere Kinder. Sie war in guter körperlicher Verfassung, in der Schule gab es keine Probleme, obwohl sie seit 1909 bei einer Pflegefamilie in Adolphsheide in Fallingbostel aufwuchs. Hier war sie in den Augen ihrer Mitmenschen ein „lebhaftes, heiter gestimmtes und gutmütiges Mädchen”.

Epileptische Insulte

Zur tragischen Wende in ihrem Leben führten epileptische Krampfanfälle, die erstmals Pfingsten 1911 auftraten. Sie waren so heftig und häufig, dass das Mädchen vom Schulbesuch ausgeschlossen und in das Kreiskrankenhaus Walsrode eingeliefert wurde. Weil die anschließende Therapie nach vier Wochen nicht den gewünschten Erfolg zeitigte, plädierte der Leiter des Kreiskrankenhauses am 21. August 1911 für die Aufnahme des Mädchens in eine Anstalt. Knapp drei Wochen später wurde Marie Przywarra Patientin des „Asyls zur Pflege Epileptischer in Rotenburg i. Hann.“. Hier diagnostizierten die Ärzte „epileptische Insulte und Aequivalente”.

Diese Einrichtung für Menschen mit Behinderungen in der Kreisstadt a. d. Wümme entwickelte sich nach 1900 zu einem der bedeutendsten Zentren im Dienste der Armen- und Krankenfürsorge in Norddeutschland. Die Kranken wurden von Schwestern betreut, die vorher in einem von Elise Averdieck gegründeten Diakonissenhaus in Hamburg gearbeitet hatten. Sie teilten sich die Arbeit anfangs mit Diakonen des Stephanstifts und später mit Brüdern des Lutherstifts.

„Immer heiter gestimmt“

Eine Betreuerin von Marie Przywarra hielt nach vier Wochen in der Krankenakte fest, dass diese in der Zeit drei Krampfanfälle gehabt hatte. Unter demselben Datum trug sie die Bemerkung ein: „Zeigt ein lebhaftes Wesen, ist immer heiter gestimmt, oftmals etwas vorlaut, besucht die Anstaltsschule mit Erfolg“. Sie half sogar den Kindern, die zum „Beschäftigungsunterricht“ gingen. Auch auf der Station packte sie in ihrer Freizeit mit an. Nach Abschluss ihrer Schulausbildung arbeitete sie auf dem Landhof und in der Flickstube. An diesem Bild änderte sich in den ersten Jahren wenig.

Zu nützlicher Beschäftigung unfähig

Leichte, aber wichtige Veränderungen wurden nach ihrem 21. Geburtstag erkennbar. Die Akten hielten fest, dass sie körperlich und geistig langsam abbaute. Ihre Arbeitskraft reichte nur noch für einen halben Tag. Sie wurde zusehends vergesslich und ließ sich „immer öfter gehen“. Diese Entwicklung kam in den nächsten Jahren nicht mehr zum Stillstand, sondern der Zustand verschlechterte sich langsam, aber unaufhaltsam von Jahr zu Jahr. Die negativen Signale häuften sich. Im Januar 1939 hatte Marie Przywarra „fast jede Nacht einen oder mehrere Krampfanfälle, auch öfter am Tage“. Außerdem – so ein Bericht – wirke sie „sehr stumpf und träge“. Sie helfe beim Kartoffelschälen und sei „sonst zu nützlicher Beschäftigung unfähig“. Darüber hinaus erfordere sie hohen Pflegeaufwand, da sie unrein sei und einnässe. Außerdem stellten die Betreuerinnen fest, dass es nach dem frühen Tod ihrer leiblichen Mutter, bei der sie noch einmal einen längeren Urlaub verbringen konnte, offenbar keine Angehörigen mehr gab, die sich hin und wieder nach ihr erkundigten.

„Aktion T4“

Mit diesem Befund war Marie Przywarra extrem bedroht, als die Berliner Zentrale der „Aktion T4“ bereits in den ersten Kriegswochen mit den Planungen und Vorbereitungen zur massenhaften Tötung angeblich unheilbar kranker Männer, Frauen und Kinder unter dem Stichwort „Euthanasie“ begann. Zu diesem Zweck wurden in sechs Tötungsanstalten im Deutschen Reich Gaskammern installiert, in denen die „Aussortierten“ kurz nach ihrer Ankunft ermordet wurden. Unter den Opfern waren in erster Linie Kranke, die als nicht mehr arbeitsfähig galten, in hohem Maße pflegebedürftig waren und kaum noch – oder gar keinen – Kontakt zu Angehörigen hatten. Am 5. August 1941 wurde Marie Przywarra zu­sammen mit 69 anderen Patientinnen der Rotenburger Anstalten in die Zwischenanstalt Weilmünster in Hessen verlegt, wo Todgeweihte die letzten Tage oder Wochen bis zu ihrer Ermordung verbrachten. Als die Gasmorde wenig später offiziell eingestellt wurden, befanden sich die Rotenburger Patientinnen noch in der Landesheilanstalt Weilmünster. Doch das bedeutete keineswegs ihre Rettung. Das Mordprogramm lief in anderer Form weiter.

Durch Kohlenmonoxidgas „desinfiziert“

Marie Przywarra verbrachte die folgenden drei Jahre in diesem Krankenhaus, bevor sie in die nahe gelegene „Landesheilanstalt Hadamar“ in der Provinz Hessen-Nassau weiterverlegt wurde. Hinter den Mauern dieser Anstalt waren von Januar 1941 bis September 1941 insgesamt 10.072 Menschen durch Kohlenmonoxidgas „desinfiziert“ worden, wie es in der verschleiernden Sprache der Mörder hieß. Nach der Einstellung der Gasmorde waren die Vernichtungsanlagen zwar wieder abgebaut worden, aber das Töten ging weiter, nun auf den jeweiligen Stationen. Hier entschieden Ärzte und Pfleger über Leben und Tod. Der Oberarzt Adolf Wahl­mann bestimmte jeweils nach der täglichen Visite und einem kurzen Blick in die Patientenakte, wer nicht mehr weiterleben durfte. Die zuständigen Stationsschwestern und Krankenpfleger hatten dann den Opfern die verordneten Medikamente zu verabreichen.

Dünne Suppe, ohne Fett und Mehl

Die „Landesheilanstalt Hadamar“ hatte in diesen Jahren einen extrem hohen Verbrauch an Luminal, Veronal, Morphium-Skopolamin und Choral-Hydrat zu verzeichnen. Hauptverantwortlich für die Tötun­gen war allerdings Alfons Klein als Leiter der Anstalt. Ihm war es wichtig, dass immer wieder Betten für neue Patientinnen und Patienten frei wurden. Die vorsätzliche Mangelernährung mit ihren Folgen trug ihrerseits zu dem massenhaften Sterben bei. Der Bericht einer überlebenden Patientin lässt daran kaum Zweifel: „Das Essen bestand morgens aus zwei dünnen Schnitten, mittags einer dünnen Suppe, ohne Fett und Mehl mit schwimmenden Kartoffelschalen, abends wieder eine Wassersuppe. … Dass bei dieser Ernährung eine schnelle Abmagerung eintreten musste, ist wohl erklärlich.“

Die Toten wurden anfangs noch auf dem städtischen Friedhof bestattet. Ab September 1942 nutzte die Anstalt ein Grundstück auf dem Berg hinter dem Hauptgebäude als neuen Friedhof. Von nun an mussten die Särge nicht mehr durch die Stadt transportiert werden, sondern konnten unauffälliger auf dem Anstaltsgelände bestattet werden. Hier konnten dann auch problemlos Massengräber für die Ermordeten ausgehoben werden.

Sterbeurkunde verschweigt Todesursache

Von 1942 bis 1945 wurden 4.817 Menschen nach Hadamar transportiert. Von diesen Patientinnen und Patienten starben in diesem Zeitraum nicht weniger als 4.422. Allein schon diese hohe Opferzahl lässt die These, dass diese Menschen eines natürlichen Todes starben, mehr als zweifelhaft erscheinen. Die Angaben auf ihren Sterbeurkunden verschweigen in der Regel die wahre Todesursache. Jeder Argwohn der Angehörigen sollte im Keim erstickt werden.

Zu den vielen Toten dieser Jahre zählt auch Marie Przywarra. Sie starb am 24. August 1944 – nur wenige Tage nach ihrer Überführung in diese NS-„Euthanasie“-Anstalt. Als Todesursache wurden „Epilepsie, Daueranfälle und Herzschwäche“ in ihre Ster­­beurkunde eingetragen.

© Klaus Möller

Quellen: Gedenkbuch der Rotenburger Werke der Inneren Mission; Archiv der Rotenburger Werke der Inneren Mission, Akte Nr. 135, 196; Rotenburger Werke (Hrsg.), Zuflucht; Landeswohlfahrtsverband Hessen (Hrsg.), „Verlegt nach Hadamar“, 3. Auflage; Schriftliche Mitteilung Christina Vanjas vom 30.5.2011; Sander, Landesheilanstalt.

(leichte Überarbeitung für ´Tiefgang` v. Heiko Langanke)

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Weiterführende Links: stolpersteine-hamburg.de

gedenken-in-harburg.de

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