Unsere Harburger Autorin hat wieder zum Federkeil gegriffen und beschert uns aus gutem Anlass eine schöne Weihnachtsgeschichte …
Von Ute Holst
„Aua“, ein schreckliches Geräusch ertönt in meiner unmittelbaren Nähe und sofort spüre ich diesen fürchterlichen Schmerz. „Hilfe, warum hilft mir denn keiner?“, mit einem verzweifelten Schrei stürze ich zu Boden.
„Da haben sie sich aber einen besonders schönen Baum ausgesucht“, höre ich eine mir bekannte Männerstimme sagen. „Ja, wir haben auch lange gesucht“, antwortet eine Frau.
Schon packen mich zwei kräftige Hände und zerren mich grob an meiner Spitze in die Höhe. Dann stößt der Mann mich mit meinem abgesägten Stamm auf den Boden, dass meine Zweige nur so zittern. Dabei entfernt er auch noch einige trockene Grashalme und ein verlassenes Vogelnest.
Nachdem er mich eine Weile getragen hat, zieht er mich durch eine Art großen Trichter, wodurch meine Zweige eng an meinen Stamm gedrückt werden. Das geht alles blitzschnell und als ich wieder aus dieser Röhre herauskomme, stecke ich in einem Netz wie in einem Korsett. Die Menschen wechseln noch ein paar Worte und verabschieden sich, indem sie sich „Frohe Weihnachten“ wünschen.
In diesem Jahr hat es also mich erwischt. Jahrelang ist es mir gelungen, mich klein und unscheinbar zu machen. Aber vor einigen Wochen kam ein Mann und hat ein rotes Band an meiner Spitze befestigt. Auch einige meiner Nachbarn hat er gekennzeichnet. Stolz erzählte mir der Baum neben mir, dass er sich freue, nun endlich auch auserwählt zu sein. Er könne es gar nicht abwarten in ein von Menschen bewohntes Haus zu kommen. Dort würde er mit bunten Kugeln und mit Kerzen geschmückt werden und in leuchtende Kinderaugen sehen.
Ich frage mich, woher er das alles wissen will. Für mich war es immer eine Freude, wenn die Sonne mich mit ihren Strahlen wärmte oder der Regen mich erfrischte. Mir gefiel es auch, wenn der Wind durch meine Zweige streifte und die Vögel, die in mir Schutz gesucht hatten, ihre Federn aufplusterten, um sich vor der Kälte zu schützen. Im Sommer tanzten Schmetterlinge um mich herum, als wollten sie Fangen spielen. Wenn Ameisen oder Käfer an meinem Stamm nach oben in die Spitze krabbelten, kitzelten ihre Beinchen an meiner Rinde. Wenn ein Hase mich mit seinem weichen Fell berührte, lief mir ein wohliger Schauer durch meine Jahresringe.
Im Winter, wenn sich Schneeflocken auf meinen Zweigen türmten und die Sonnenstrahlen sie wie kleine Diamanten glitzern ließen, hatte ich das Gefühl besonders schön zu sein. Konnte da eine menschliche Behausung überhaupt mithalten?
All diese Gedanken änderten nichts mehr, nun war mein Schicksal besiegelt, mein Leben würde als Weihnachtsbaum enden.
Schließlich war es so weit, mein Stamm wurde in einen Ständer gezwängt und ich wurde mit Kerzen und bunten Anhängern geschmückt. Nicht nur Glaskugeln in unterschiedlichen Farben, sondern auch eine Gurke und sogar eine Klo-Rolle aus farbigem Glas wurden an meinen Zweigen befestigt.
„Warum denn ausgerechnet eine Klo-Rolle?“, hörte ich eine verärgerte Männerstimme. „Na ja, schließlich grassiert immer noch Corona! Hast du denn gar keinen Humor?“, erwidert seine Frau. „Hast du vergessen, dass es wochenlang kein Toilettenpapier zu kaufen gab?“ „Du hast doch einen Knall, deswegen hängt man sich doch nicht so ein Ding in den Weihnachtsbaum“, empört sich der Ehemann.
„Und ich sage das Ding bleibt dran“, antwortet die Frau mit energischer Stimme. Gleich darauf wird die Zimmertür mit einem lauten Knall ins Schloss geworfen. Die Hausherrin geht ein paar Schritte zurück und betrachtet mich mit Wohlwollen. Dann holt sie einen großen Korb voller Geschenke und legt sie rund um meinen Stamm. „Da werden die Kinder Augen machen“, flüstert sie voller Begeisterung, während sie die letzten Päckchen dekoriert und ablegt.
Als auch sie das Zimmer verlässt, bin ich allein und denke zurück an mein schönes Leben in der Natur. Aufgeregte Stimmen reißen mich aus meinen Gedanken. Vier Erwachsene und zwei Kinder sind im Raum und betrachten mich voller Bewunderung. „Oma, wieso kommt der Weihnachtsmann immer gerade dann, wenn wir nicht zuhause sind?“, fragt das kleine Mädchen. „Der Weihnachtsmann muss so viele Kinder besuchen, dass er es gar nicht schafft alle persönlich zu treffen“, mischt sich der Großvater ein. „Ist doch egal“, ruft der Junge, „Hauptsache es gibt viele Geschenke.“
Mit diesen Worten stürzt er sich auf die Gaben und reißt mich dabei fast um. „Nicht so wild“, schreit der Vater, „du siehst doch, dass wir echte Kerzen haben und nicht diesen Elektroschrott!“
„Du hast mal wieder den Eimer mit Wasser vergessen“, ereifert sich seine Frau und verlässt wütend das Zimmer. „Nun beruhigt euch doch, es ist doch nichts passiert“, besänftigt die Großmutter. „Außerdem müssen erst die Gedichte aufgesagt werden, bevor die Bescherung beginnen kann.“
Mit beleidigtem Gesicht zieht sich der Junge zurück: „Ich kann kein Gedicht“, knurrt er mürrisch. „Dann gibt es eben auch keine Geschenke“, meldet sich energisch der Vater zu Wort.
Inzwischen ist die Mutter mit dem gefüllten Wassereimer zurück und blickt von einem zu anderen: „Was ist denn jetzt los?“, fragt sie beunruhigt. „Dein Sohn weigert sich ein Gedicht aufzusagen“, reagiert der Ehemann gereizt.
„Ach, jetzt ist es also mal wieder mein Sohn“, die Mutter stemmt die Hände in die Hüften und schaut ihren Mann zornig an. „Das ist ja mal wieder typisch!“
„Nun beruhigt euch doch“, mischt sich der Opa ein, „Weihnachten soll doch das Fest der Liebe sein.“
„Du immer mit deinen frommen Sprüchen“, zischt ihn sein Schwiegersohn an. „Dann feiert Weihnachten doch allein. Ich gehe jetzt in die Kneipe und werde mich besaufen“, mit diesen Worten verlässt er den Raum und knallt die Tür hinter sich zu.
Erschrocken sehen die Kinder sich an und ihre Mutter bricht in Tränen aus.
Keiner hat mehr Augen für mich, den Schmuck und die Kerzen.
Und das sollen fröhliche Weihnachten sein?